Aktuell steht die Ukraine vor allem wegen der bedrohlichen Situation an seiner Ostgrenze im internationalen Fokus. Weniger Beachtung finden die gesellschaftlichen Entwicklungen, die es seit 2014 gegeben hat – auch mit Blick auf das Zusammenleben der zahlreichen Ethnien im Land. Aus diesem Anlass haben wir mit Wolodymyr Leysle, dem Vorsitzenden des RDU (Rat der Deutschen der Ukraine) gesprochen. Es geht um Parallelen zwischen der Ukraine und Kasachstan, den Status der deutschen Minderheit in der ukrainischen Gesellschaft und das Leben unter dem Eindruck ständiger Kriegsangst.

Herr Leysle, Sie sind Vorsitzender im Rat der Deutschen der Ukraine, stammen aber selbst aus Kasachstan und haben bis in die 1998 in Almaty gelebt. Was hat Sie in die Ukraine verschlagen?

Tatsächlich hat unsere Familie, wie alle deutschen Familien im postsowjetischen Raum, eine sehr weite geografische Verwurzelung. Meine Eltern stammen aus der Region Ostkasachstan, wohin 1930-1940 Verwandte aus der Wolgadeutschen Republik und der Ukraine deportiert wurden. Und obwohl ich in Riga geboren wurde, kehrten wir Anfang der 90er Jahre nach Kasachstan zurück – wegen der Asthma-Erkrankung meiner Schwester, und um näher bei den Verwandten zu sein. Während meiner Studienjahre in Kasachstan entdeckte ich die deutsche Gemeinschaft und eine deutsche Heimat in Almaty.

Als wir acht Jahre später von Almaty nach Simferopol umzogen, gab es auf der Krim nicht genug Initiativen und Projekte für Jugendliche. Deshalb ist nahezu sofort der Deutsche Jugendverband der Krim aufgetaucht. Es folgten viele Projekte – zuerst lokal auf der Krim, dann gesamtukrainisch und später auch international. 2001 leitete ich den Gesamtukrainischen Jugendverband, 2009 wurde ich zum Vorsitzenden des Deutschen Rates in der Ukraine ernannt.

Welche Verbindungen gibt es sonst zwischen Ukrainedeutschen und Kasachstandeutschen, und wie kommen diese zustande?

Ich würde sagen, dass unsere Verbindungen enger sind, als es auf den ersten Blick scheint. Und das lässt sich nicht auf Taras-Schewtschenko-Straßen in Kasachstan oder Denkmäler von Schambyl Schabajew in Kiew reduzieren. Es sind vielmehr auch Tausende von Familiengeschichten der Völker, die während der Jahre der Repression nach Kasachstan deportiert wurden: Ukrainer, Deutsche, Krimtataren, Bulgaren, Armenier, Griechen und viele andere zu Unrecht angeschuldigte Nationen. Jetzt, wo die Archivbestände zugänglich gemacht wurden, haben viele angefangen, sich für die Unterlagen über ihre verfolgten Angehörigen zu interessieren. Wobei man bedenken muss, dass nicht alle Bestände den Krieg überstanden haben, weshalb sich ein besonderes Interesse an die Unterlagen richtet, die in kasachischen Archiven verfügbar sind.

Wie viele Angehörige der deutschen Minderheit leben in der Ukraine und wie ist das Verhältnis zur restlichen Bevölkerung?

Die Ukraine und die Deutschen verbindet eine jahrhundertealte gemeinsame Geschichte. Die historischen Verbindungen reichen bis in die Zeit der Kiewer Rus zurück und sind sehr reich. Um die Geschichte der Deutschen in der Ukraine zu erzählen, haben wir einen kurzen Zeichentrickfilm für Schüler und Studenten gemacht – ich möchte hier anmerken, dass wir ihn mit Unterstützung der Ukrainischen Kulturstiftung erstellt haben und er nun immer wieder im Fernsehen ausgestrahlt und in Schulen gezeigt wird. Ich empfehle jedem, ihn sich anzuschauen.

In der Ukraine leben laut der letzten Volkszählung mehr als 33.302 Angehörige der deutschen Volksgruppe. Das sind etwas mehr als fünf Prozent der deutschen Vorkriegsbevölkerung. Wir sollten zudem nicht vergessen, dass es älteren Menschen auch heute noch schwerfällt, sich als Deutsche zu bezeichnen – so groß ist die Angst angesichts der einst erlittenen Repressionen.

Wie ist die Stellung der Deutschen innerhalb der ukrainischen Gesellschaft? Welche Parallelen sehen Sie zu den Deutschen in Kasachstan, welche Unterschiede?

Die Ukraine hat – wie auch Kasachstan – eine sehr inklusive Gesellschaft. Wir sehen wegen unseres nationalen oder sprachlichen Hintergrundes keinerlei Verletzungen unserer Rechte. Darüber hinaus ist es wichtig zu betonen, dass in der Ukraine mehr als 600.000 Schüler Deutsch als Fremdsprache in den Schulen lernen – damit ist Deutsch die zweitbeliebteste Fremdsprache nach Englisch. Wichtig ist auch anzumerken, dass viele Städte und Dörfer der Ukraine ein großes deutsches historisches und kulturelles Erbe haben. Die deutsche Sprache war jahrhundertelang eine der Kommunikationssprachen in Lemberg, Iwano-Frankiwsk, Czernowitz. In diesen Städten kannten die Menschen fünf bis sechs Sprachen, und das ist ein gutes Beispiel für uns.

Um den Umfang des historischen und kulturellen Erbes zu verstehen, möchte ich darauf hinweisen, dass allein in der Region Galizien mehr als 360 Kolonien und Bauernhöfe, in denen Deutsche einst lebten, erhalten sind. Auch in Wolhynien, der Schwarzmeerregion, am Asowschen Meer, in Bessarabien und in der Bukowina ist es beeindruckend, die Ausmaße dieses Erbes zu sehen. Aktuell arbeiten wir an der Schaffung virtueller Museen, um zumindest das zu bewahren und bekannt zu machen, was bis heute erhalten ist.

Seit 2014 ist die Ukraine durch die Lage im Osten in einem dauerhaften Stresszustand. Zugleich gab es innenpolitisch große Veränderungen. Wie hat sich das in den letzten acht Jahren auf die deutsche Minderheit im Land ausgewirkt?

Hier möchte ich in erster Linie die positiven Veränderungen hervorheben, denn darüber wird in den Medien nur noch selten berichtet – sie spielen aber eine sehr wichtige Rolle. Erstens gilt für die Ukraine seit 2017 eine Visumfreiheit. Die Einreise in die EU- und Schengen-Staaten ist nun einfach mit einem biometrischen Reisepass möglich. Zweitens kamen unmittelbar danach weltweite Billigfluggesellschaften ins Land ein, was die Preise für Flüge in europäische Länder erheblich gesenkt hat. Vor der Pandemie war es auf Wunsch möglich, zum Preis von 35-50 Euro pro Ticket sicher übers Wochenende zum Beispiel nach Lübeck oder Köln zu fliegen.

Für uns hat dies die Durchführung internationaler Projekte und Besuche bei Angehörigen in Deutschland erheblich erleichtert. Wir können sagen, dass Deutschland spürbar näher und besser zugänglich geworden ist. Natürlich hat die Pandemie dem Ganzen Grenzen gesetzt – aber wir hoffen, dass all dies bald ein Ende hat und wir den internationalen Jugendaustausch und andere kulturelle Projekte mit neuem Elan wieder aufnehmen können.

Auch der Fokus unserer Aktivitäten hat sich verschoben: Standen früher Kultur- und Freizeitprojekte im Vordergrund, ist seit 2014 die Nachfrage nach Deutschkursen spürbar gestiegen. Fast alle Begegnungszentren bieten Kurse in mehreren Gruppen an, parallel dazu begannen auch Online-Kurse. Zunächst richteten diese sich an die Deutschen des Donbass und der Krim, aber mit Beginn der Pandemie verstärkt auch an andere Gruppen.

Um noch einmal zur Lage an der ukrainischen Ostgrenze zurückzukommen: In Europa und den USA wächst seit Monaten die Sorge vor einem russischen Einmarsch in die Ukraine. Der ukrainische Präsident Selenski warnte dagegen kürzlich vor Panik, um die wirtschaftliche Stabilität des Landes nicht zu gefährden. Wie ist aktuell die Stimmung in Ihrem Umfeld?

Leider wirken sich die ganzen pessimistischen Nachrichten auch wirtschaftlich und sozial aus. So haben sich seit Anfang des Jahres die Versorgungsleistungen deutlich verteuert. Die Heizkosten etwa sind im Schnitt zwischen 45 und 200 Prozent gestiegen. Und auch die Lebensmittel- und Benzinpreise sind deutlich gestiegen.

Wir verfallen nicht in Panik und führen weiter planmäßig unsere Projektaktivitäten durch, machen Ausschreibungen für Wettbewerbe bei verschiedenen Stiftungen und suchen Sponsoren für Projekte. Um es ganz klar zu sagen: Wir leben seit 2014 in ständiger Besorgnis und mit Verlustmeldungen von der Front. Es gibt über 1,4 Millionen Binnenflüchtlinge im Land. Aber in der aktuellen Situation bin ich sicher, dass es möglich sein wird, die Eskalation durch diplomatische Bemühungen zu verhindern – auch durch die Unterstützung unserer internationalen Partner.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Christoph Strauch.

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