Wirtschaftswachstum, gemessen an der Zunahme des Bruttoinlandsproduktes (BIP), ist wohl die wichtigste makroökonomische Kennziffer, an der sich förmlich alle Wirtschaftsexperten und Politiker ergötzen.
Wirtschaftswachstum ist prinzipiell auch notwendig, wenn man als Gesellschaft das Ziel hat, das Wohlstandsniveau zu steigern oder auch „nur“ solche Probleme, wie Hunger und allgemeine Unterentwicklung zu beseitigen. Mehr Produktion im Weltmaßstab ist schon deshalb normal, weil die Weltbevölkerung kontinuierlich wächst, also immer mehr Leute mit Wohnung, Nahrung, Kleidung, und anderen Dingen des täglichen Bedarfs versorgt werden müssen. Hinzu kommen noch die wachsenden Ansprüche von uns Menschen an das materielle Lebensniveau, was ebenfalls überwiegend nur mit einem Mehr an Produktion zu erreichen ist.
Auf der anderen Seite bedeutet mehr Produktion prinzipiell jedoch auch mehr Verbrauch von Ressourcen und mehr Belastungen der Umwelt. Dieser Teufelskreis des „Mehr erzeugt mehr“ wird in der Wirtschaftsliteratur seit etwa Beginn der 1970er Jahre beachtet, nachdem die beiden Amerikaner Meadows und Meadows ihr heftig diskutiertes Buch „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlicht haben. Darin waren die Folgen des stetigen Steigens der menschlichen Produktion für die Lebensqualität und generell für die Bewohnbarkeit unseres Planeten sehr drastisch, wenn auch nicht fehlerfrei ausgewiesen. Seither findet man in jedem Lehrbuch zur Wirtschaftspolitik einen Abschnitt, der sich „Wachstumspolitik“ nennt und das Dilemma zwischen Mehrproduktion und Mehrbelastung der Umwelt darstellt. Unterschieden wird mittlerweile zwischen den beiden prinzipiellen Arten des Wachstums: dem quantitativen und dem qualitativen. Mit letzterem ist gemeint, das auch mit geringerem mengenmäßigen Wachstum der Produktion oder des Verbrauchs von Produktionsfaktoren der qualitativ gleiche Effekt erreicht werden kann, wie beim mengenmäßigen Zuwachs. Man kann also zum Beispiel von A nach B mit einem „Wolga“ fahren , der mindestens 13 Liter Kraftstoff verbraucht, derselbe Transporteffekt kann aber mit einem technisch neuen Fahrzeug ebenso erreicht werden, das dafür nur beispielsweise 5 Liter Kraftstoff verbraucht. Natürlich ist qualitatives Wachstum vorteilhafter – bei sonst gleichbleibenden Bedingungen, wie die Ökonomen immer gern hinzufügen.
Kasachstan weist nun seit einigen Jahren bekanntlich ziemlich hohe BIP-Wachstumsraten aus – so zwischen neun und zehn Prozent real, also nach Abzug der Preissteigerungen. Auf den ersten Blick ist das gut, zumal man ja noch von einem, absolut betrachtet, ziemlich niedrigen BIP-Niveau ausgeht. Außerdem hat der Präsident die Aufgabe gestellt, das BIP bis zum Jahre 2015 mindestens zu verdoppeln. Damit sollen die Mittel zur Lösung einer ganzen Reihe von sozialen und anderen Entwicklungsfragen geschaffen werden. Das ist ein durchaus legitimes Ziel.
Wirtschaften ist jedoch ein sehr komplexer Prozess, und mittlerweile sind auch eine ganze Reihe unerwünschter Folgen der doch eher einseitigen Orientierung auf die Quantität zu spüren. Zuallererst betrifft das den Zustand der Umwelt. Laut offizieller Umweltschutzstrategie des entsprechenden Ministeriums hat sich der Gesamtzustand der Umwelt in den Jahren des stürmischen Produktionswachstums in Kasachstan nicht nur nicht verbessert, sondern insgesamt verschlechtert. Der Ausstoß von Schadstoffen wächst, obwohl eigentlich die Mittel da sind, diese Situation zu verändern. Die Strategie formuliert so auch nur das Ziel der Stabilisierung des (schlechten) Zustandes der Umwelt, nicht jedoch eine durchgreifende Verbesserung der Situation. Zwar fehlen offizielle Zahlen, aber es dürfte mittlerweile so sein, dass ein Großteil des BIP-Zuwachses an anderer Stelle durch die Zerstörung der Umwelt wieder aufgefressen wird. Zwar wird in letzter Zeit durchaus ab und zu von „ausgewogener“ oder „nachhaltiger“ Entwicklung gesprochen, in der Praxis aber dominiert nach wie vor das von oben vorgegebene Mengendenken. Probleme qualitativer Art existieren aber mehr als genügend, beginnend bei der Wasserversorgung vieler Regionen bis zur international geringen durchschnittlichen Lebenserwartung.
Man muss sich nicht unbedingt Europa oder Deutschland zum Vorbild nehmen, dafür ist das Entwicklungsniveau in verschiedener Hinsicht nun doch zu differenziert. Aber das vor der Haustür liegende China kann man sich schon mal genauer anschauen. Dort wurde nun beschlossen, auf einige Prozente Wachstum zu verzichten, dafür aber Umweltschutzaspekte und Fragen der Verteilung des gesellschaftlichen Vermögens stärker in den Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik zu rücken. Dort ist die Lage mittlerweile so, dass der rasante Produktionszuwachs der letzten Jahre vollständig durch die Verschlechterung der Gesundheit und der allgemeinen Lebensqualität verzehrt worden ist, man also keinen gesellschaftlichen Wohlstandseffekt erreicht hat. Das Ziel des gesellschaftlichen Wirtschaftens aber ist Wohlstand – nicht nur für alle, sondern auch ausgewogen in seinen materiellen und nichtmateriellen Bestandteilen.
Bodo Lochmann
26/10/07