Laut Volkszählung lebten 1897 circa 1,8 Millionen Deutsche im Russischen Reich. Wolga– und Schwarzmeerdeutsche, Bessarabiendeutsche, Deutsche in Sibirien, im Kaukasus und in Mittelasien. Sie kümmerten sich fleißig um ihren Grundbesitz und galten als eine der wohlhabendsten Gruppe des Zarenreiches. Deutsche Siedler hatten etwas zu verlieren – das Land, das sie besaßen. Der Erste Weltkrieg, die Februar– und die kurz darauffolgende Oktoberrevolution setzten dem ruhigen Leben der deutschen Kolonisten im Russischen Reich jedoch ein Ende.
2017 jährt sich die Oktoberrevolution zum 100. Mal. Nachdem die Februarrevolution 1917 das Zarenreich beendet und die Gründung der Provisorischen Regierung, bestehend aus der sozial-liberalen Übergangsregierung und den Sowjets, bewirkt hatte, ergriffen die Bolschewiki am 25. Oktober 1917 endgültig die Macht und sorgten damit für den Anfang der kommunistischen Sowjetunion. Für die Geschichte der Deutschen aus Russland spielt die Oktoberrevolution eine wesentliche Rolle, sie wird aber angesichts weiterer zentraler Ereignisse wie die Bildung der Wolgadeutschen Republik oder die Deportationen im Zweiten Weltkrieg stets in den Hintergrund gerückt.
Um den Blick wieder darauf zu richten, organisierte die Deutsche Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der LmDR und ihrer Jugendorganisation am 7. und 8. September in Berlin eine wissenschaftliche Tagung zu diesem Thema. Prominenteste Teilnehmer aus den Reihen der LmDR waren ihr Bundesvorsitzender Waldemar Eisenbraun und der Bundesvorsitzende der Jugend-LmDR, Walter Gauks.
„Gerade in Zeiten der allgemeinen politischen Vereinfachung ist es wichtig, zu betonen, dass uns der Dialog am Herzen liegt. Wichtige Jahrestage wie 100 Jahre Oktoberrevolution sind dazu natürlich ein wunderbarer Anlass. Wir möchten mit der Tagung einen Aspekt in den Blick nehmen, der uns ein bisschen vernachlässigt scheint“, sagte Dr. Andreas H. Apelt, Bevollmächtigter des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft, in seinem Begrüßungswort bei der Tagung.
Welche Folgen hatte die Oktoberrevolution für die Deutschen in der Sowjetunion? Wie nachhaltig waren die Wirkungen? Was bedeutet die Oktoberrevolution für die junge Generation der Deutschen aus Russland? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigten sich die Teilnehmer der Tagung in den Räumlichkeiten der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin. (Die Inhalte dieses Artikels basieren vor allem auf dem Referat des Historikers Dr. Viktor Krieger, das im Rahmen der Tagung gehalten wurde.)
In seinem Vortrag „Was brachte die bolschewistische Machtübernahme im Oktober 1917 den deutschen Siedlern im Russischen Reich?“ schilderte Dr. Krieger, wie deutsche Siedler die neuen Herausforderungen des 20. Jahrhunderts wahrnahmen. „Sie reagierten fassungslos auf diskriminierende Maßnahmen im Ersten Weltkrieg, auf die haltlosen Verratsbeschuldigungen, auf Deportationen aus dem frontnahen Gebiet, auf die Liquidation ihres Grundbesitzes und insgesamt auf die germanophobe Politik der Kriegsjahre. Enthusiastisch wurden daher die Februarrevolution und der Übergang Russlands zu einer demokratischen, parlamentarischen Republik begrüßt“, so Dr. Krieger.
Allerdings hätten die deutschen Siedler den politischen und wirtschaftlichen Zielen der Bolschewiki, die im November 1917 (nach dem alten julianischen Kalender) die Macht ergriffen, skeptisch bis ablehnend gegenübergestanden. „Bolschewiki handelten sehr unprofessionell: Sie nahmen denen, die etwas besaßen, alles weg und verteilten es. Wie sollten die Deutschen darauf reagieren? Natürlich negativ“, meinte auch Dr. Katharina Neufeld, ehemalige Leiterin des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold.
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Gründung der Wolgarepublik
Der Grundbesitz der deutschen Bauern wurde von den Bolschewiki rücksichtslos enteignet und kollektiviert. Dies führte Anfang der zwanziger Jahre zu einer globalen Hungerkatastrophe in der Sowjetunion, der mindestens 180.000 Deutsche zum Opfer fielen. Viele Deutsche hatten vor, auszuwandern, aber es gab kaum Staaten, die damals eine derart große Anzahl bäuerlicher Emigranten aufgenommen hätten. Hoffnungslos und verzweifelt, griffen Deutsche in Russland zum ersten Mal in ihrer Geschichte zur Waffe, um ihr Eigentum und ihre Rechte zu verteidigen. Ähnlich wie bei vielen anderen Völkern der Sowjetunion äußerte sich ihr Widerstand in zahlreichen Aufständen und Unruhen.
Um die Situation etwas zu entschärfen, gründete die sowjetische Führung für die an der Wolga kompakt lebenden Deutschen ein eigenes autonomes Gebiet, das Anfang 1924 zur Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen aufgewertet wurde. „Das Spezifische am Schicksal der deutschen Minderheiten im Zarenreich war, dass sie verstreut auf dem Gebiet des Zarenreiches lebten und rein geografisch nicht die Möglichkeit hatten, ihre eigene Republik zu gründen“, sagte auf der Tagung der Historiker György Dalos, Autor des Buches „Geschichte der Russlanddeutschen. Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart“.
„Und da kamen die Bolschewiki mit ihrem taktisch sehr gut ausgearbeiteten Plan: Sie wussten, dass für die Deutschen zwei Sachen absolut wichtig waren: der Frieden und das Land. Und sie haben den Deutschen – vor allem an der Wolga – mehr als nur eine Autonomie versprochen, sie haben die Wolgadeutsche Republik gegründet, wie auch zahlreiche andere Republiken, die dann Bestandteile der Sowjetunion wurden. So konnten die Deutschen aus Russland ihre Existenz fortsetzten.“ Doch die Sowjetdeutschen konnten ihr neues Leben nicht lange genießen – mit dem Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 wurde die Wolgarepublik aufgelöst.
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Folgen der „Großen Sozialistischen“ Oktoberrevolution für die Deutschen in der Sowjetunion
„Jetzt, nach 100 Jahren, ist es sehr leicht, über die Oktoberrevolution zu diskutieren. Man kann sagen, ‚böse Bolschewiki‘; die Ideen von Bolschewiki waren aber damals sehr populär. Deswegen konnte auch der Bürgerkrieg gewonnen werden“, behauptete Prof. Dr. Dr. Dönninghaus, der sich lebhaft an der Podiumsdiskussion bei der Berliner Tagung beteiligte.
Zu den Zielen der bolschewistischen Führung führte Dr. Krieger aus: „Es soll auch nicht unerwähnt werden, dass die bolschewistische Führung bestrebt war, neue Loyalitäten aufzubauen: durch Förderung der mittellosen Bauern und Industriearbeiter, durch eine nationale Territorialautonomie, ein Netz nationaler Rayons und andere Maßnahmen. Vor allem die kompakt lebende deutschsprachige Minderheit an der Wolga kam der Nationalitätenpolitik der Bolschewiken entgegen.“
Generell hätten aber die Oktoberrevolution und die Übernahme der Macht durch die Bolschewiki vorwiegend negative Folgen für die Deutschen in der Sowjetunion gehabt – darauf einigten sich die meisten Teilnehmer der Tagung. „Es steht fest: Unter allen Völkern und Minderheiten in der einstigen UdSSR waren es die Russlanddeutschen, die mit Abstand am meisten unter der Sowjetherrschaft gelitten haben“, betonte etwa Dr. Krieger. Und György Dalos meinte: „Für verschiedene Völker brachte die Oktoberrevolution zu verschiedenen Zeiten verschiedene Folgen. Aber für die Russlanddeutschen brachte sie am wenigsten Positives.“
„Nach der so genannten Oktoberrevolution 2017 ist den Deutschen aus Russland lange nicht viel Gutes widerfahren. Sie blicken auf eine Geschichte zurück, die weitgehend geprägt ist von Enttäuschungen, Unrecht und Leid“, äußerte sich zum Thema Oktoberrevolution und Deutsche in der Sowjetunion auch die Staatsministerin Prof. Monika Grütters in ihrem Grußwort, das bei der Tagung verlesen wurde.
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Stimme der Jugend
Welche Bedeutung hat aber die Oktoberrevolution für die junge Generation der Deutschen aus Russland? Wird mit ihnen darüber auch im familiären Kreis gesprochen?
In seinem Impulsvortrag bei der Tagung führte Walter Gauks aus: „Man könnte meinen, was gibt es Gemeinsames zwischen der Oktoberrevolution und uns, die diese Revolution nicht erlebt haben? In ihrer großen Mehrheit zeigt die Jugend weltweit kein großes Interesse an Geschichte, Politik und Kultur, wenn sie nicht gerade beruflich oder als Schulfach behandelt werden müssen. Mit dem Erwachsenwerden und der Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen vollzieht sich jedoch unvermeidlich eine Umwertung der lebenswichtigen Prioritäten. Es werden plötzlich Dinge wichtig, über die man als junger Mensch nicht nachgedacht hat. Dazu gehört der Wunsch, sich am politischen oder gesellschaftlichen Leben zu beteiligen.“
Einstimmig negativ beantworteten die jungen Leute, die sich an der Podiumsdiskussion beteiligten – die Sängerin Helena Goldt, der Politiker Georg Dege und die Soziologin Alexandra Dornhof –, die Frage, ob in ihren Familien über die Oktoberrevolution gesprochen wurde. Dieses Thema wird in russlanddeutschen Familien tatsächlich nicht aufgegriffen und aufarbeitet, außer man setzt sich wissenschaftlich damit auseinander. Das sei schade, so die Teilnehmer, weil die Geschichte somit nicht weitergetragen werde.
Lena Arent
Der Artikel erschien zuerst in der Verbandszeitschrift der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. „Volk auf dem Weg“, Ausgabe 10/2017.