In der Sowjetunion wurde Kasachstan als „Laboratorium der Völkerfreundschaft“ bezeichnet. Heute leben mehr als 120 Ethnien in dem zentralasiatischen Land. Wie kann ein friedliches Miteinander funktionieren und welche Rolle spielt Identität dabei? Dr. Beate Eschment ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin. Dort arbeitet sie an einem Projekt über Identitätsbildung und Interessenvertretung der kleinen nationalen Minderheiten in Kasachstan. Im Interview spricht sie über Kasachstans Nationalitätenpolitik, seine Rolle in der internationalen Politik und warum es sogar gut ist, dass man nur wenig über Zentralasien in deutschen Zeitungen liest.
Sie wurden Anfang Mai als Expertin für politische Prozesse und Demokratisierung in Zentralasien von der Assemblee des Volkes Kasachstans nach Astana eingeladen, um über nationale Identität zu sprechen. Es leben über 120 Ethnien hier. Gibt es in Kasachstan überhaupt so etwas wie eine nationale Identität?
Ich denke schon. Der Staat Kasachstan macht jede Menge, um so eine Identität zu schaffen. Der Anspruch ist dabei, eine kasachstanische Identität zu schaffen, weil es eine Identität aller Nationalitäten sein soll. Die Frage ist jedoch, inwieweit ein Staat in der Lage ist, seinen Bürgern eine Identität vorzugeben, oder diese sich von selbst entwickelt. Ich glaube schon, dass es bei den Menschen ein Bewusstsein dafür gibt, dass sie Bürger Kasachstans sind. Allerdings verschiebt sich dieses Bewusstsein aufgrund der demografischen Entwicklung immer mehr weg vom Kasachstanischen hin zum Kasachischen.
Deutsche, Koreaner oder Türken werden sich doch auch in Zukunft nicht als Kasachen sehen. Oder verstehe ich Sie da falsch?
Wir müssen zwischen kasachstanisch – also Bürger Kasachstans – und kasachisch unterscheiden. Dass Deutsche keine Kasachen sind, ist klar. Allerdings kann ein Mensch grundsätzlich mehrere Identitäten haben. Es sollte das Ziel der kasachstanischen Nationalitätenpolitik sein, dass die Menschen ein übergeordnetes Zugehörigkeitsgefühl zu ihrem Staat Kasachstan, aber gleichzeitig auch die Identität ihrer Ethnie haben. Die verbliebenen Deutschen sollen sich auch weiterhin eine Identität als Deutsche, die Tschetschenen als Tschetschenen und die Koreaner als Koreaner bewahren. Das war der Anspruch, den der Präsident Nursultan Nasarbajew in den neunziger und zweitausender Jahren formulierte.
Ich beobachte die Situation der Nationalitäten in Kasachstan bereits seit über 20 Jahren. Mitte der neunziger Jahre hatten weder die Kasachen noch die anderen Nationalitäten so etwas wie eine feste Identität. Damals war es ein unsicheres, diffuses Gefühl. Man gehörte nicht mehr zur Sowjetunion. Es gab einen Neustart und plötzlich durfte man auch eine Identität als einzelne Ethnie haben. Ich glaube, dies hat sich mittlerweile bei allen verfestigt. Das ist ganz deutlich bei den Kasachen zu sehen. Aber auch viele der anderen, kleineren Ethnien haben sich in den vergangenen Jahren als Gruppe konsolidiert.
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2017 stellte Präsident Nursultan Nasarbajew sein Konzept zur „Modernisierung der Identität Kasachstans“ vor. Steht dieses für eine Neuausrichtung der Nationalitätenfrage?
Die Nationalitätenpolitik ist die ganze Zeit über ein Stück weit im Fluss. Allerdings lässt sich beobachten, dass langsam klargestellt wird, dass die Kasachen die Gastgeber sind. Das war schon 2007 bei der Umbenennung der „Assemblee der Völker“ in die „Assemblee des Volkes“ zu sehen. 2017 folgte nur ein weiterer logischer Schritt in diese Richtung.
Die Assemblee des Volkes soll ein politisches Forum für die Minderheiten in Kasachstan sein. Welche Bedeutung kommt ihr tatsächlich zu?
Ich glaube, dass sie eher eine symbolische beziehungsweise emotionale als eine politische Bedeutung hat. Die Assemblee ist ein Ort, wo die Nationalitäten sich versammeln und ihre Wünsche äußern können. Das hat für diejenigen, die als Vertreter ihrer jeweiligen Ethnie aktiv sind, eine große Bedeutung. Sie können in der Assemblee zusammentreffen, Beschlüsse fassen, aber vor allem auch informell über gemeinsame Probleme reden. Die Ethnien bekommen das Gefühl, dass es einen institutionellen Ort gibt, an dem sich um die eigenen Bedürfnisse gekümmert wird. Das ist das Entscheidende.
EXPO, Winteruniversiade, UN-Sicherheitsrat: Ein Teil der Identitätspolitik Kasachstans scheint über Imagekampagnen zu laufen. Wie schätzen Sie den Erfolg dieses nation branding ein?
Schwer zu sagen. Das Image ist offensichtlich sehr wichtig. Das ist verständlich: Wenn man zum Beispiel in Deutschland von Kasachstan oder einer anderen zentralasiatischen Republik redet, trifft man häufig auf Ratlosigkeit. Daher besteht der Bedarf, sich bekannter machen zu wollen.
Bei dem Engagement in den politischen Organisationen ist das gar nicht so schlecht. Schon 2010 hatte Kasachstan den Vorsitz in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) inne, später in der Organisation für Islamische Zusammenarbeit; jetzt folgte der Sitz im UN-Sicherheitsrat. Die anderen Sachen, wie die EXPO, haben das Image Kasachstans in Deutschland nicht unbedingt verbessert. Die wenigen Presseberichte, die es gab, nutzten den Anlass neben der EXPO ein paar kritische Bemerkungen über Kasachstan zu machen. Das hat nicht zu einem positiven Image Kasachstans beigetragen, was ich persönlich sehr bedauere.
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Mit dem Sitz im UN-Sicherheitsrat und den Astana-Gesprächen zu Syrien hat sich Kasachstan auf der (sicherheits-)politischen Weltbühne als Vermittler präsentiert. Es gilt als Schlüsselland für Chinas Seidenstraßeninitiative. Wird Kasachstan künftig international eine wichtigere Rolle einnehmen?
Das muss man auf zwei Ebenen sehen. Einerseits bemüht sich Kasachstan um die Rolle als Mediator in der internationalen Politik, was ich positiv bewerten würde. Andererseits hatte Kasachstan bisher ein Alleinstellungsmerkmal, was die internationale Rolle Zentralasiens betrifft. Kirgisistan und Tadschikistan sind arme, kleine Staaten. Turkmenistan sieht sich als „neutraler Staat“, der international nicht groß in Erscheinung tritt. Usbekistan war bisher auch eher verdeckt.
Doch das ändert sich gerade. Im November vergangenen Jahres gab es zum Beispiel eine große internationale Konferenz zu Sicherheitsfragen in Samarkand. Usbekistan sucht nun so viele internationale Kontakte wie möglich. Damit entwickelt sich für Kasachstan ein sehr engagierter Nachbar in der Region. Ich würde jetzt noch nicht Konkurrent dazu sagen wollen, denn es kann durchaus sein, dass sie es schaffen, sich gemeinsam zu positionieren. Doch zumindest gibt es jetzt einen weiteren Akteur, der bisher nicht auf dem internationalen Parkett tätig war. Das verändert die Situation für Kasachstan erheblich.
Sehen Sie in diesem neuen Engagement Usbekistans auch die Möglichkeit, dass es in Zukunft eine Art „Zentralasiatische Union“ geben wird?
Ich setze große Hoffnungen darauf, dass es die vier zentralasiatischen Staaten [ohne Turkmenistan, Anm. d. Red.] endlich schaffen, ihre Interessen gemeinsam zu vertreten. Es werden langsam viele nachbarschaftliche Konflikte abgebaut. Wenn es den Ländern gelingt, gemeinsam als Zentralasien aufzutreten, hoffe ich, dass sie international nicht immer hinter Russland oder China aufgeführt werden.
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Es tut sich also gerade einiges in der Region. Warum finden Kasachstan und allgemein Zentralasien in den deutschen Medien dennoch so wenig Beachtung?
Zentralasien kommt tatsächlich selten in der deutschen Presse vor, und wenn dann im Reiseteil. Das ist aber kein zentralasiatisches Problem, sondern auch andere Staaten in der Welt, zum Beispiel in Afrika oder Südamerika, kommen kaum noch vor. Das ist einfach ein Problem der deutschen Auslandsberichterstattung, die immer mehr abgebaut wird. Eigentlich haben unsere Zeitungen ja nur noch Korrespondenten in den EU-Nachbarstaaten, Russland, China und den USA. Wenn aus den anderen Regionen der Welt berichtet wird, dann im Falle
Zentralasiens mit hübschen Reisebildern oder wenn es eine (politische) Katastrophe gibt. Da bin ich manchmal sogar ganz froh, dass Zentralasien nicht so häufig in den Medien vorkommt.