Kasimir Malewitsch leitete den Durchbruch zur gegenstandslosen Kunst ein. Zunächst lag das revolutionäre Kunstverständnis ganz auf Linie der Sowjetideologie – später beendete Stalin das Kapitel gewaltsam.
„In meinem verzweifelten Bemühen, die Kunst vom Balast der gegenständlichen Welt zu befreien, floh ich zur Form des Quadrats.“ Als Kasimir Malewitsch, der Begründer des Suprematismus und Wegbereiter des Konstruktivismus, sich 1913 zu diesen Worten verleiten ließ, stand das Russische Reich noch immer fest unter der Macht des letzten Zaren Nikolaus II. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs feierten Adelsgeschlechter an den Höfen und Palästen Sankt Petersburgs ausschweifende Bälle, während die Landbevölkerung in bitterer Armut, Hunger und ohne Bildung, allerdings in höchstem Glauben an den allmächtigen Herrgott dahinvegetierte.
Ob Malewitsch und die anderen Futuristen und Avantgardisten im Russischen Reich und in ganz Europa bereits ahnten, was ihnen bevorstand, als der serbische Nationalist Gavrilo Princip am 28. Juni 1914 in Sarajewo den Thronfolger Österreich-Ungarns Erzherzog Franz Ferdinand erschoss, ist nicht bekannt. Fakt ist, dass das Zarenreich eher widerwillig in den Ersten Weltkrieg eintrat, als es sich hinter Serbien und gegen Österreich-Ungarn stellte. Seine Truppen waren 1914 zahlenmäßig überlegen, jedoch erbärmlich ausgerüstet und ausgebildet. Der Zar wollte keinen Krieg, hasste Gewalt und wollte die Ordnung Europas nicht gefährden.
Höchstmögliche Stufe der Abstraktion
Malewitsch seinerseits holte zu seinem ganz persönlichen Donnerschlag aus. Er präsentierte im Dezember 1915 in Petrograd (wie Sankt Petersburg seit Kriegsbeginn genannt wurde) auf der sogenannten Letzten Futuristischen Ausstellung „0.10“ sein suprematistisches Gemälde „Das Schwarze Quadrat auf weißem Grund“. Die geheimnisvolle Zahl 0.10 bezog sich auf ein Gedankenexperiment: Null, weil man erwartete, dass nach der Zerstörung des Alten die Welt von Null wieder beginnen könnte. Und zehn, weil sich ursprünglich zehn Künstler beteiligen sollten, darunter Wladimir Tatlin, Nadeschda Udalzowa und Ljubow Popowa.
Malewitschs Schwarzes Quadrat markierte den Durchbruch zur gegenstandslosen Kunst. Es zeigt die höchstmögliche Stufe in der Abstraktion. Gleichzeitig platzierte er sein Werk wohlbedacht schräg oben in der Wandecke, unter der Decke des Raumes, wo normalerweise eine orthodoxe Ikone ihren Platz hat. Es ging um die völlige Überwindung alter Gesellschaftsformen mit den Mitteln der modernen Kunst. Gleichzeitig sahen die Bolschewiki um Wladimir Lenin und Leo Trotzki ihre Stunde gekommen. Sie kehrten im Laufe des Jahres 1917 aus dem politischen Exil nach Russland zurück, während die zaristische Regierung immer mehr Macht verlor und ihre Armee an der Front keine Erfolge erzielte. Die Bolschewiki waren ebenfalls der Meinung, dass die herrschenden Verhältnisse überwunden werden müssten – im Zweifelsfall mit radikalen, gewaltsamen Mitteln.
Architektur im Konstruktivismus als „Mutter der Künste“
Anders als es die spätere Propaganda von der Erstürmung des Winterpalais in Petrograd glauben machen wollte, verlief die Oktoberrevolution beinahe geordnet, weitestgehend ruhig und orchestriert. Was folgte, war ein blutiger und brutaler Bürgerkrieg zwischen Zaristen und Bolschewiki, der bis 1922 andauerte. Die „Roten“ allerdings wussten um die Macht der Propaganda, sie zählten von Anfang an auf die radikale Bildersprache und die Aussagekraft der Avantgardisten um Kasimir Malewitsch. Nun lag es in den Händen der Avantgardekünstler, den theoretischen Manifestationen von der proletarischen Weltrevolution Ausdruck zu verleihen.
Es war die Ablehnung von allem Prunk und Kitsch der Zarenzeit, die radikale Besinnung auf die geometrischen Grundformen, auf Quader, Rechtecke, Kreise und Linien, die das Denken der Avantgarde der 1920er und 1930er Jahre beeinflusste. Malewitschs Schwarzes Quadrat war der Nullpunkt und die höchste Stufe dieser Entwicklung. Darauf folgte die Neuordnung der geometrischen Formen, der Konstruktivismus. Hochhäuser sollten aus dünnen, sich in den Himmel windenden Linien bestehen. Der Proletarier sollte im frühen Sowjetreich viereckige Hosen und kreisrunde Hemden tragen. Der blutige Bürgerkrieg der Bolschewiken gegen die Zaristen wurde als Kampf eines roten gegen ein weißes Dreieck dargestellt. Die Architektur wiederum galt den Konstruktivisten, die sich als die Gestalter eines neuen öffentlichen Raumes sahen, als „Mutter der Künste“. Und Moskau war während der 1920er Jahre ihr Zukunftslabor.
Die Kunst sollte der Produktion dienen
Alma-Ata wurde 1927 Hauptstadt der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Mit der Anbindung der Stadt an die Turkestan-Sibirische Eisenbahn im Jahr 1929 zogen diverse Regierungsbehörden nach Alma-Ata um. Dieser enorme Schub an politischer Bedeutung kam der Stadt zu Gute. Ein Investitionsplan für die Jahre 1929 und 1930 sah 11,6 Millionen Rubel für Wohnungsbau, Verwaltungsgebäude und Versorgungseinrichtungen vor. Eine neue Architektur musste her, die dem radikalen Zeitgeist entsprach und mit allem bislang Dagewesenen brach. Die kurze Zeit des Konstruktivismus in Alma-Ata begann mit dem Neubau des Hauses der Regierung, welches zum Zentrum eines neuen Verwaltungsviertels von Alma-Ata werden sollte.
Von dem Architekten Moissej Ginsburg zwischen 1927 und 1931 erbaut, folgte das ursprüngliche Konzept des Baus dem konstruktivistischen Grundgedanken, die Kunst solle der Produktion dienen. Ein Gebäude streng nach seiner Funktion und unter Verwendung der geometrischen Grundformen zu gestalten, war für die 1920er und frühen 1930er Jahre noch immer revolutionär. So entstand für die Regierung der Kasachischen SSR ein schmuck– und schnörkelloses rechteckiges Verwaltungsgebäude mit Treppen und Übergängen hinter Glasfassaden. Selbst ein Schwimmbad befand sich auf dem Dach. Die Regierung war in diesem Gebäude in der Panfilow-Straße bis 1958 ansässig, bevor sie in einen weitaus prunkvolleren Neubau ganz in der Nähe umzog. Das erste Haus der Regierung steht heute als erstes konstruktivistisches Gebäude der Stadt unter Denkmalschutz. Sein originales Aussehen und damit seinen besonderen Wert für den Konstruktivismus hat es allerdings durch zahlreiche Umbauten verloren.
Ein Highlight des Konstruktivismus in Alma-Ata
Ginsburg war auch für den Neubau des Hauses der Kommunikation verantwortlich, der sich einen Steinwurf vom Haus der Regierung befindet. Zuvor befand sich das Postamt in überaus beengten Räumlichkeiten nicht weit vom Grünen Basar. Das neue Gebäude bot neben dem Postamt Platz für die modernste Kommunikationstechnik wie Telegrafen oder nationale und internationale Telefonverbindungen. Das charakteristische, weite Halbrund an der Ostseite sowie die großen Fensterfronten an der Fassade dominieren dieses zwischen 1931 und 1934 erbaute Gebäude und machen es zu einem weiteren Highlight der kurzen konstruktivistischen Phase in Alma-Ata. 1960 kam ein neuer Gebäudeteil mit Uhrenturm dazu, dessen Glockenspiel junge Paare zu romantischen Treff anlockte. Das Glockenspiel ist inzwischen Geschichte, doch eine Filiale der kasachischen Post existiert noch. Auch das Halbrund an der Ostfassade dominiert weiterhin diesen Teil der Bogenbai-Batyr-Straße.
Als Alma-Ata zur Hauptstadt der Kasachischen SSR wurde, zog es nicht nur hohe Regierungsbeamte in die Stadt. Auch Abteilungen des berüchtigten NKWD siedelten sich an. Das Innenministerium der UdSSR war insbesondere für seine Tätigkeiten als Geheimpolizei und für die Organisation des GULag-Systems unter Stalin gefürchtet. Doch in Alma-Ata trat man selbstbewusst auf, wie der Bau des Dserschinski-Klubs des NKWD im Jahr 1935 zeigt. Der große Veranstaltungssaal des vom Architekten I. Burowzew entworfenen Klubs fasste 480 Plätze.
Stalin zog einen Strich unter das konstruktivistische Kapitel
Seinerzeit bedeutendes Merkmal des Gebäudes war die mehrstöckige, zur Straße hin gewandte runde Glasfassade, an die sich rechteckige Gebäudeteile anschlossen. Heute beherbergt das Gebäude das Nationale Uigurische Theater. Nach Umbaumaßnahmen in den 1990er Jahren ist vom ursprünglichen Aussehen aber kaum noch etwas übriggeblieben. In unmittelbarer Nähe des Klubs entstanden die Zentrale des NKWD sowie überaus mondäne Wohnungen für die Beamten des Innenministeriums und die Geheimdienstler, ebenfalls allesamt im Stil des Konstruktivismus.
Hier und da finden sich auch heute noch im Stadtgebiet von Almaty Architekturbeispiele für die kurze Phase des Konstruktivismus. Ab Mitte der 1930er Jahre spielte diese jedoch keine Rolle mehr, da Stalin den sozialistischen Realismus zur bestimmenden Kunstrichtung erhob. Praktisch alle Avandgardekünstler und Architekten des Konstruktivismus wurden später Opfer der Stalinistischen Säuberungen. Seitdem dominierten neoklassizistische Protzbauten den Städtebau in der Sowjetunion. Es ist allerdings der Ernennung Alma-Atas zur Hauptstadt der Kasachischen SSR noch im Jahr 1927 zu verdanken, dass die Stadt für eine sehr kurze Zeit Teil dieser künstlerischen Bewegung unter Avantgardisten wie Kasimir Malewitsch wurde, die ihrer Zeit weit voraus war.