Die Berufung eines Beauftragten für Aussiedlerfragen durch die Bundesregierung im Jahre 1988, als sich die gewaltigen politischen Veränderungen in den Staaten des Warschauer Paktes erst abzuzeichnen begannen, war eine ausgesprochen vorausschauende, von Weitsicht geprägte Entscheidung. Erst im Rückblick können wir deren historische Dimension heute erfassen.
Anfang 1988 wurde das Gesetz zum Lastenausgleichsarchiv beschlossen. Diejenigen, die – entgegen der Intention dieser Entscheidung – meinten, es käme nun das Ende der Kriegsfolgebereinigung, die Archivierung und Musealisierung des kulturellen Erbes der Deutschen im östlichen Europa und die Abwicklung eines nicht in die politische Wunschlandschaft passenden Themas, sahen ihre Chance gekommen. Hier sollte das neue Amt des Aussiedlerbeauftragten ein in seiner Bedeutung und Notwendigkeit nicht hoch genug einzuschätzendes Gegengewicht darstellen, machte es schon allein durch seine Existenz und die dann beherzte Wahrnehmung die fortwährende Aktualität und Notwendigkeit einer Kriegsfolgebereinigung sichtbar.
Dem Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten gibt die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesregierung eine starke Stellung, die nach wie vor unvermindert nötig ist. Seit seiner Einrichtung im Jahr 1988 stand dieses Amt innerhalb der politischen Debatte zu keinem Zeitpunkt in Gänze zur Disposition. Das belegt die hohe Bedeutung, welche die Bundesregierung diesem Aufgabengebiet ungebrochen beimisst. Dieses gilt auch und gerade für die heute in Deutschland lebenden Aussiedler und in den letzten Jahren wieder verstärkt zuziehenden Spätaussiedler.
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Ich verstehe meine Aufgabe so, dass ich Anwalt und Ombudsmann für die deutschen Heimatvertriebenen, Aussiedler und Spätaussiedler, aber auch für die in der angestammten Heimat verbliebenen Deutschen sowie für die Angehörigen der autochthonen nationalen Minderheiten in Deutschland bin.
Als früherer Angehöriger der deutschen Minderheit in Rumänien bringe ich für diese Aufgaben einen eigenen Erfahrungshorizont mit. Die Notwendigkeiten und Herausforderungen im Alltag der dem Amt anvertrauten Personenkreise sind mir nicht fremd.
Vertriebenen und Aussiedlern in Deutschland ist gemeinsam, dass beide Gruppen ein besonderes Kriegsfolgeschicksal tragen. Um dieses abzumildern wurden das Bundesvertriebenengesetz, das Lastenausgleichgesetz, das Fremdrentengesetz und eine Reihe weiterer Vorschriften geschaffen. Die Notwendigkeiten der Wiederbeheimatung gehen aber weit über das hinaus, was durch Legislativgestaltung aufgefangen werden kann.
Aussiedler und Spätaussiedler, also Deutsche, die nach 1945 zunächst in ihrer angestammten Heimat aus der vorher inklusiven Gesamtgesellschaft in eine innere Isolation, voller Entrechtung, Stigmatisierung und Ausgrenzung, „vertrieben“ wurden, sind durch diese Verfolgungen allein aufgrund ihrer deutschen Volkszugehörigkeit, durch den ständigen Kampf gegen kulturelle Entwurzelung und Assimilierung, in der angestammten Heimat in besonderer Weise geprägt. Die Folgen davon wirken auch nach der Aussiedlung deutlich fort.
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Die Aufgaben des Aussiedlerbeauftragten gehen also weit über eine koordinierende Rolle bei der Aufnahme unmittelbar nach dem Zuzug hinaus: Hauptgrund des regelrechten Kampfes nach Befreiung, an dessen erfolgreichem Ende die Aussiedlung stand, war der gerade geschilderte Entzug der emotionalen Heimat – unmittelbar und im eigenen Zuhause.
Wir müssen uns stets vor Augen halten, dass die Deutschen aus dem östlichen Europa und der ehemaligen Sowjetunion aus diesem Grund mit einer regelrechten Sehnsucht nach Heimat zu uns kamen und kommen. Nach Jahrzehnten der Verfolgung, Unterdrückung und Ausgrenzung wollen diese Menschen endlich wieder in einem vertrauten, freundlichen, heimatlichen Raum leben, wohlgelitten „als Deutsche unter Deutschen“, und diese Sehnsucht dürfen und wollen wir nicht enttäuschen. „Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muss“, sagt Johann Gottfried Herder.
Wenn wir uns klar werden, wie wichtig für die zuziehenden Spätaussiedler die Selbstverortung als Deutsche ist, können wir verstehen, wie groß der Schock gewesen sein muss, wenn sie von Teilen der einheimischen Bevölkerung – und von Teilen der Politik! – nicht als Landsleute, sondern als Fremde wahrgenommen werden, wenn sie als Teil eines „Migrantenproblems“ adressiert und damit erneut ausgegrenzt werden. Die fatalen Folgen dieser Missverständnisse sind uns allen bekannt, darüber wurde in letzter Zeit schon viel gesagt und vermutet.
Sie sehen aber, meine Damen und Herren, die Wiederbeheimatung der Aussiedler in der Bundesrepublik Deutschland ist zwar bereits eine Erfolgsgeschichte, die jedoch noch lange nicht abgeschlossen ist. Dabei gilt es künftig noch stärker zu berücksichtigen, dass die Selbstverortung der Spätaussiedler nicht nur in der deutschen Volkszugehörigkeit, sondern auch in ihrer spezifischen Identität, als Russlanddeutsche, als Siebenbürger Sachsen, als Oberschlesier, als Donauschwabe etc. stattfindet.
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Vertriebenen- und Aussiedlerpolitik ist daher auch gerade Kulturpolitik, welche die kulturelle Identität der Deutschen in ihrer Vielfalt ernst nimmt und so zur Wieder-Beheimatung beiträgt. Gerade in den letzten Jahren wurden hier bedeutende Verbesserungen erreicht, etwa durch die Einrichtung weiterer spezifischer Kulturreferate im Geschäftsbereich der Beauftragten für Kultur und Medien.
Die solidarische Verantwortung für Kriegsfolgeschicksale erstreckt sich auch auf diejenigen Deutschen, die in ihrer angestammten Heimat verbleiben wollen. Kurz nachdem sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in den Ländern die bislang sehr regressiven Regelungen zur Ausreise von Deutschen aus den Ländern des kommunistischen Ostblocks gelockert hatten, boten sich mit dem Zusammenbruch des „Eisernen Vorhangs“ und den epochalen Veränderungen im Innern dieser Staaten für die Bundesregierung ganz neue Möglichkeiten, den Angehörigen der deutschen Minderheiten vor Ort zu helfen.
Seitdem gilt für die Bundesregierung der Grundsatz: Jede Hilfe und jede Maßnahme, die das Kriegsfolgeschicksal mildert oder gar beseitigt, alles, was die Rahmenbedingungen für einen gedeihlichen Verbleib in der angestammten Heimat fördert, ist eine erstrebenswerte Unterstützung. Gleichzeitig bleibt natürlich das berühmte und heute bereits in Erinnerung gerufene „offene Tor nach Deutschland“ für die deutschen Heimatverbliebenen offen, gerade damit diese selbst entscheiden können, ob sie gehen oder unter veränderten Rahmenbedingungen doch bleiben wollen. Wir werden sie in ihrer Entscheidung unterstützen, egal wie diese ausfällt. Das gebietet die Solidaritätspflicht der gesamten bundesdeutschen Gesellschaft gegenüber den Deutschen im östlichen Europa und in der ehemaligen Sowjetunion, die in Folge der vom nationalsozialistischen Deutschland ausgegangenen Menschheitsverbrechen, für diese – obgleich in den meisten Fällen persönlich unschuldig – in eine Kollektivhaftung genommen wurden.
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Die Ignoranz gegenüber dem Sonderschicksal der Deutschen aus dem Osten, meine Damen und Herren, gehört leider zu den großen Verdrängungsleistungen der deutschen Nachkriegsgesellschaft, und dieser Verdrängung und Ignoranz entgegenzuwirken, ist eine der wichtigen Aufgaben des Beauftragten.
Nun, wie leisten wir all das, was heute angesprochen wurde?
– Wir müssen die Aussiedler und Spätaussiedler in Deutschland mit offenen Herzen aufnehmen und ihnen dieses auch glaubhaft vermitteln.
– Wir müssen sie in ihrer kulturellen Selbstverortung als Deutsche bestärken und ihre ausgeprägte „Sehnsucht nach Heimat“ erfüllen.
– Wo durch Versäumnisse Entfremdung und ein neues Gefühl der Heimatlosigkeit entstanden ist, müssen wir nachholend beherzt und empathisch gegensteuern und entstandene Missverständnisse beseitigen.
– Wir müssen dringend die noch bestehenden Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten beseitigen: das betrifft Fragen einer gerechten Rente ebenso wie die Anerkennung von Schul- und Berufsabschlüssen.
– Wir müssen die Heimatvertriebenen und die Heimatverbliebenen in ihrer kollektiven Selbstwahrnehmung als zusammengehörende, grenzüberschreitende Gemeinschaften – in einem heute friedvollen und freien Europa stärken.
Wir müssen dazu gerade auch die Heimatverbliebenen durch unsere gesamte Hilfenpolitik in ihrer kulturellen Selbstverortung als Deutsche unterstützen. Je besser dieses gelingt, desto stärker werden die Angehörigen deutscher Minderheiten als loyale Staatsbürger ihrer Heimatstaaten die dortigen Gesellschaften bereichern und gleichzeitig gemeinsam mit den Heimatvertriebenen und Aussiedlern in Deutschland eine fruchtbare Tätigkeit als Brückenbauer entfalten können.
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Bei all diesem müssen wir – als zentrale Leitlinie – der Einbeziehung der jungen Generation und der Jugendarbeit an sich künftig ein noch größeres Gewicht geben. Nur die junge Generation – meine Damen und Herren – ist für unsere Anliegen die existenziell notwendige Brücke in die Zukunft. Gerade bei jungen Menschen ist eine besorgniserregende Diskrepanz zwischen der eigenen kulturellen Selbstverortung und der subjektiven Fremdverortung in unserer Gesellschaft wahrzunehmen. Jugendarbeit wird daher einer der Schwerpunkte meiner Amtswahrnehmung in dieser Amtsperiode sein.
Dieses gilt übrigens nicht nur für den Bereich Aussiedler und Heimatverbliebene, sondern gerade auch für die nationalen Minderheiten in Deutschland, die Dänen, die Friesen, die Sorben, die deutschen Sinti und Roma sowie die Sprachgruppe Niederdeutsch. Die erste Erweiterung des Zuständigkeitsbereichs des Beauftragten für Aussiedlerfragen, war in meinen Augen eine wichtige und zutreffende Entscheidung. Durch die kontinuierliche Befassung mit den Normen des internationalen Minderheitenschutzes und durch einen intensiven Dialog mit dem Europarat als Schöpfer der beiden bedeutenden Übereinkommen auf europäischer Ebene wurde die nötige Expertise und Sensibilität erarbeitet.
Das Verbindende zwischen Deutschen Heimatvertriebene, Aussiedler und Spätaussiedler, den heimatverbliebenen Deutschen im östlichen Europa sowie den Angehörigen der nationalen, autochthonen Minderheiten in Deutschland hat unsere Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, der unsere Anliegen sehr wichtig sind, so treffend auf den Punkt gebracht: „Was ist der Kern oder die Gemeinsamkeit all dieser verschiedenen Gruppen? Ich würde sagen: das Bekenntnis zur eigenen kulturellen Identität“. Wir sollten dieses Bekenntnis zur eigenen kulturellen Identität bestmöglich unterstützen und diese möglichst gesichert in die Zukunft tragen.
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Ich wünsche daher dem Amt des Beauftragten für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten eine gute Zukunft!
Ich wünsche insbesondere:
– weiterhin viel Verständnis für dessen fortwährende Bedeutung bei der aktuellen und auch bei allen kommenden Bundesregierungen!
– Ich wünsche über dieses Verständnis hinaus eine Stärkung und effektive Ausgestaltung des Amtes dergestalt, dass die Amtsausübung in seiner ressortübergreifenden und sehr häufig auch zwischenstaatlichen und übernationalen Wirkungsbreite bestmöglich unterstützt wird.
Die allgemeine Regelung in der gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesregierung bietet dafür einen guten Anknüpfungspunkt, der durch Konkretisierung sicher noch verbessert werden könnte.
Auf Grund der sehr guten Erfahrungen und dem segensreichen Wirken der Erweiterung der Amtsaufgaben im Jahre 2002, deren Begründung Bundeskanzlerin Merkel so treffend auf den Punkt gebracht hat, rege ich perspektivisch ein Nachdenken über die eine oder andere weitere Ergänzung der Aufgaben an, und nenne – vielleicht als Schlussfolgerung des bisher Gesagten – nur beispielhaft etwa die Einbeziehung der vielen Deutschen außerhalb des Bundesgebietes in allen Teilen der Welt, deren kulturelle Selbstverortung uns ebenfalls wichtig ist.
Ich danke dem Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat für seine Initiative zur heutigen Veranstaltung, ich danke allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des BMI, für deren Unterstützung, ganz gleich in welchen Strukturen diese tätig sind, man erkennt darin eine empathische Unterstützung der Aufgaben des Beauftragten. Ich danke den Mitwirkenden für die großartige Organisation sowie Ihnen allen für Ihr Kommen und Ihre Aufmerksamkeit. Ganz herzlichen Dank!