Wenn ich nach dem bekanntesten Kasachstandeutschen unserer Zeit gefragt werde, nenne ich immer ohne zu zögern den Namen Gerold Karlowitsch Belger.

In die Geschichte der Kasachstandeutschen sind natürlich eine Menge mehr Namen eingegangen. Alle haben sie einen bedeutenden Beitrag geleistet, sei es zur Entwicklung Kasachstans oder zur gesamten Region Zentralasiens, aber die Vielseitigkeit und das Talent von Herold Belger kann man nicht hoch genug einschätzen:  Er ist einer der berühmtesten Schriftsteller Kasachstans; ein begabter Literaturübersetzer, Publizist und Kritiker. Belger verfaßt seine Werke in drei Sprachen: Kasachisch, Russisch und Deutsch. In einem seiner Interviews nannte er sich selbst „Zögling dreier Staaten – Russlands, Kasachstans und Deutschlands“ (etwa: in drei Kulturen gelernt). In jedem dieser Länder ist Gerold Belger mehrfach mit Preisen ausgezeichnet worden. Ihm wurde der erste kasachische Orden „Parasat“ verliehen, in der Nominierung „Kulturschaffende Kasachstans“ ist er zum Menschen des Jahres („Altyn Adam“ –Goldener Mensch) ernannt worden. Seitens der Russischen Föderation erhielt Belger für seine Verdienste für die Gesellschaft und für die Festigung der Völkerfreundschaft die „Katharinen-Medaille“. Im März 2010 erhielt Belger vom Botschafter der Bundesrepublik Deutschland Rainer Schlageter im Namen des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler den Orden „Für die Verdienste um die Bundesrepublik Deutschland“.

Herr Belger, in einigen Ihrer Bücher beschreiben Sie den Stammbaum Ihrer Familie. Wie schafften Sie es, an diese Informationen zu gelangen, sogar bis zu Ihren Vorfahren aus Deutschland?

Jeder Mensch sollte seinen Familienstammbaum kennen. Davon bin ich seit meiner frühesten Kindheit tief überzeugt. Die ethnisch-motivierten Repressalien und Verfolgungen brachten es mit sich, dass viele Deutschstämmige ihre Familiennamen verschleierten, russische Endungen an die Namen hängten; ich war aus tiefster Seele dagegen! Von Geburt an war und bin ich ein Belger. Die Familiengenealogie hat mich schon immer interessiert.

Meine Mutter hatte übrigens ein phänomenales Gedächtnis, sie kannte alle Namen und Geburtsdaten der Kinder, die innerhalb von dreißig Jahren in unserem Aul geboren wurden. Viele von ihnen kannten selbst nicht einmal ihr Geburtsdatum, aber sie wußte alles. Ein beeindruckendes Gedächtnis. Entsprechend denErzählungen meiner Mutter und meines Vaters erstellte ich den Stammbaum von sechs Generationen. Das sind etwas über 200 Menschen. Von Seiten meines Vaters sieben Geschwister, von Seiten meiner Mutter ebenfalls noch einmal sieben. Ich habe ausführlich beschrieben, wer, wann und wo geboren wurde. Außer den Erzählungen meiner Eltern gab es noch einige Aufzeichnungen bei uns zuhause: beispielsweise Dokumente meines Großvaters aus der Zeit, als er noch in der zaristischen Armee Russlands diente.

Wenn mich meine Verwandten besuchten, habe ich jeden, wie man sagt „abgetastet“, was er für ein Mensch ist, woher er stammte, welche Kinder er hatte. Das alles half mir mein Archiv aufzubauen. Die erste, die zweite und die dritte Generation in meinem Stammbaum sind Russlanddeutsche, danach treten Vermischungen auf mit Russen, Ukrainern, Tataren, Mordwinen, Griechen. Die achte Generation war schon in Deutschland.

Mein Neffe Artur Belger hat mir bei dieser Arbeit sehr gut geholfen; er wohnt jetzt in Deutschland. Dort hat er sich an eine besondere Einrichtung gewandt, welche sich im Verlaufe von zwei Jahren mit der Suche nach Verwandten und der Erstellung unseres Familienstammbaums befasste – dabei war man auf unsere Vorfahren aus dem 16. Jahrhundert gestoßen! So haben wir erstmals von Andreas Belger erfahren, von dem der russische Zweig unserer Familie Belger abstammt.

In ihrem Buch „Resümee“ schreiben Sie: „Jeder hat seine Lebensweg, seine Bestimmung, seinen Eigenarten.“ Glauben Sie, dass die Literatur für Sie von Anfang an vorherbestimmt war?

Ja, das glaube ich! Ich habe zeitig beschlossen, Schriftsteller zu werden. Anfangs schrieb ich auf Kasachisch. Ab dem zweiten Studienjahr wechselte ich ins Russische. Manchmal schleichen sich deutsche Wörter, Redewendungen und kleine Absätze in meine Tagebuchaufzeichnungen ein. Ab dem 12. Lebensjahr wurde ich schwerkrank, auf Krücken gehend beendete ich die Schule, die Universität und die Promotion, fing an zu arbeiten. Physisch und moralisch war ich geschwächt, aber gerade das hat meinen Charakter geprägt: Widerstand zu leisten und dem Schicksal zu trotzen. Dass ich einmal Schriftsteller werde, habe ich schon meinen Schulfreunden in der zweiten Klasse mitgeteilt. Seit diesem Moment schreibe ich Tagebücher – sie sind alle erhalten geblieben. Ich führe zwei Arten von Tagebuch: eines für mich selbst, was niemanden interessieren wird, weil es sehr viel Kleinigkeiten und Unwichtiges enthält. Daraus erstelle ich Texte, welche schon eine bestimmte gesellschaftlich-soziale Bedeutung haben. Ich war seit jeher ein gesellschaftlich aktiver Mensch, Parlamentsabgeordneter, daher habe ich ein großes Netzwerk von Kontakten. Deshalb hoffe ich, dass diese Auszüge aus den Tagebuchnotizen nun auch für ein breites Publikum interessant geworden sind.

Wenn man Ihre autobiographischen Werke über das schwere Schicksal und die Belastungen liest, die Sie und Ihre Familie in den 50er und 60er Jahren erleben mussten, ist eines sehr erstaunlich: Woher nehmen Sie diese Kraft zu kämpfen und weiter zu machen, woher das Streben einer der Besten zu sein und nicht nur mit dem Strom zu schwimmen?

Ich bin auf eine Art Fatalist. Irgendwann mit 12 Jahren ist mir die Idee gekommen, dass ich für irgendeine Aufgabe geschaffen wurde, dass ich nicht einfach so auf der Welt bin. Diese Idee hat mich ständig durchs Leben begleitet. Mehr sogar, heute im reiferen Alter fällt es mir sehr leicht, damit zu leben. Weil ich mich sozusagen nicht selbst durchs Leben führe, sondern geführt werde. Irgendeine jenseitige Macht spricht zu mir: „Heute tust du dies, morgen das. Jenes aber lohnt sich noch nicht für dich, dafür bist du noch nicht reif.“ Und ich unterwerfe mich dieser inneren Stimme. Das klingt jetzt sehr mystisch, seltsam. Besonders für mich, einen ziemlich realistisch eingestellten Menschen. Aber was da ist, ist da. Nach einem Herzinfarkt und einem Schlaganfall war ich davon überzeugt, dass die Stimme zu mir sagte: „Solange du noch mit der „Schreibfeder“ auf dem Papier herumkratzt, werde ich dich in Ruhe lassen, aber sobald du damit aufhörst, hole ich dich.“ Meine Überzeugung ist: Was sein soll, wird kommen, was sein wird, das gab es schon.

Ich folge immer einem strengen Zeitplan; manchmal nervt diese Planmäßigkeit meine Freunde, die oft versuchen, sie durcheinander zu bringen: Sie sind nicht rechtzeitig, wie vereinbart, da sie rufen an, lenken mich ab und freuen sich, wenn es ihnen gelingt. Morgens zum Beispiel schreibe ich mir meine Aufgaben für den jeweiligen Tag auf und, wenn ich etwas tagsüber nicht schaffe, dann vollende ich es eben nachts. Ich habe mich schon in eine Maschine, einen Mechanismus verwandelt. Viele wundern sich, wie ich so viel schreiben konnte. Alles kommt daher, dass ich ununterbrochen jeden Tag arbeite. Mein Prinzip ist: Ich schreibe Prosa. Wenn ich dafür keine Fantasie und Einbildungskraft mehr habe, schreibe ich eben Kritiken, wenn die Kritik auch nicht funktioniert, fertige ich Übersetzungen an. Irgendetwas mache ich immer.

Herr Belger, im vergangenen Jahr 2012 wurde die zehnbändige Ausgabe Ihrer gesammelten Werke vollendet. Handelt es sich hier um die vollständige Sammlung Ihrer Werke?

Oje! Von einer vollständigen Sammlung kann keine Rede sein! Für eine vollständige Sammlung bräuchte man noch einmal zehn bis zwölf Bände. Die ersten sechs Bände sind mit Prosa gefüllt – Romane, Erzählungen, Kurzgeschichten. Ein Band ist meiner Übersetzungsarbeit gewidmet, ein anderer den Essays, einer der Literaturkritik und der letzte der Publizistik. Damit sind alle Genres abgedeckt, in denen ich seit fünf Jahrzehnten tätig bin. Leider haben meine Artikel über die Forschung zur Literatur der Russlanddeutschen keinen Eingang in die zehn Bände gefunden, das sind mindestens drei Bände extra, wie z.B. „Inmitten des Zeitgeschehens“, „Pomni imja swoje“, „Russlanddeutsche Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart“, „Aleksej…“, „V poiskach swojego ritma“, „Koordinaty“, ungefähr zwei Bände mit Werken auf Kasachisch, drei Bände Essayistik und Publizistik aus dem Zyklus „Pletenje tschepuchi“, zwei Bände Tagebuchaufzeichnungen („Der Schatten vergangener Tage“), zwei Bände Rezensionen, Kritiken und Bewertungen, ein Band Aufsätze und literarische Porträts; sicher findet sich noch etwas.

Sie kennen die Mehrzahl der russlanddeutschen Schriftsteller und stehen auch in Briefwechsel mit ihnen. Praktisch alle Neuerscheinungen finden den Weg zu Ihnen, um rezensiert zu werden. Was verstehen Sie unter dem Begriff „Literatur der Russlanddeutschen“?

Ich sage immer, dass die Russlanddeutschen ein besonderes Volk, eine besondere Ethnie sind, die unter besonderen historischen Bedingungen entstanden und gewachsen sind. Das Volk der Russlanddeutschen hat seine eigene Kultur, seine Literatur, eigene Charaktereigenschaften, die sie von anderen unterscheiden, ein eigenes Weltverständnis und eine eigene Weltanschauung.

Unbestreitbar ist, dass es eine russlanddeutsche Literatur gibt, die sich in verschiedenen Etappen unterschiedlich herausgebildet hat, die Blütezeiten und Aufschwung als auch Zeiten des totalen Schweigens gekannt hat (1941-1964). Die Literatur der Russlanddeutschen diente jedoch stets ehrlich ihrem Volk und den jeweiligen nationalen Fragestellungen. Zum jetzigen Zeitpunkt erlebt die russlanddeutsche Literatur eine Krise. Schwer zu sagen, ob sie aus der Krise herausfindet; ich dagegen glaube immer noch daran!

Herr Belger, Sie nennen sich selbst oft einen „Zögling“ dreier Staaten – Russlands, Kasachstans und Deutschlands Sie schreiben auf drei Sprachen, übersetzen vom Kasachischen ins Russische, ins Deutsche und zurück. In Ihrer Person vermischen sich drei Kulturen – die kasachische, die deutsche und die russische. Was genau bedeutet jede einzelne für Sie?

Die Verflechtung dreier Kulturen stellt meinen größten Reichtum im Leben dar. Ich sage allen: Ich trage drei Säcke auf dem Rücken mit mir herum – einen russischen, einen kasachischen und einen deutschen. Wenn du einen davon wegnimmst, wird mich das innerlich verarmen lassen. Was mich für andere vielleicht interessant macht, ist wohl in erster Linie, dass ich als ethnischer Deutscher im kasachischen Umfeld aufgewachsen bin, dass ich Kasachisch beherrsche und auch schreiben kann. Wenn man davon etwas entfernt aus der Persönlichkeit, dann werde ich nur noch ein mittelmäßiger Deutschstämmiger sein, der Russisch sprechen und schreiben kann. Jede dieser Kulturen bedeutet sehr viel für mich. Ich bin in einer deutschen Kultur geboren, großgeworden in der kasachischen, die letzte Kultur jedoch war die russische. Bis zur Immatrikulation an der Universität, habe ich keinen einzigen Russen gesehen. Ich habe stets sehr viel gelesen, da es aber niemanden gab, bei dem ich lernen konnte, sprach ich die russischen Worte so aus, wie sie geschrieben wurden: „Do-ro-ga“. Als ich die Prüfungen an der Universität ablegte, wunderten sich alle: „Er ist doch belesen, gebildet, kennt sich überall aus, aber wie kann er denn als Lehrer unterrichten, wenn er so eine seltsame Aussprache hat?“ Meine Tagebücher schrieb ich alle auf Kasachisch. Gedichte ebenfalls auf Kasachisch. Ungefähr ab dem dritten Studienjahr wechselte ich ganz zum Russischen.

Die Literatur der Russlanddeutschen begeisterte mich seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Mein erster Artikel zu diesem Thema wurde 1967 in der Zeitung „Kasachische Literatur“ veröffentlicht. Dann erschien in derselben Zeitschrift auf Kasachisch eine Auswahl von Gedichten russlanddeutscher Autoren. Der erste meiner Landsleute, der auf diese Gedichte aufmerksam wurde, war Friedrich Bolger. 1971 veröffentlichte ich in der Zeitschrift „Prostor“ die ausführliche Abhandlung „Wie ein Bruder unter Brüdern“. Ich setzte meine Arbeit zu diesem Thema aktiv weiter fort. Mich erreichten Briefe aus allen Ecken der Sowjetunion. Es schien, als wenn ich wieder in mein vertrautes Element zurückgekehrt wäre. Ich war auf einmal im Kreise der Russlanddeutschen sehr gefragt. 1972 hatte ich den Vorsitz des Rates der sowjetisch-deutschen Literatur bei der Schriftstellervereinigung Kasachstans inne.
So sind die drei Saiten meiner Seele, welche eine Bereicherung für mich darstellen. Alle drei Kulturen pflege ich beständig. In letzter Zeit habe ich mich zwar etwas von der deutschen Sprache entfernt, da ich kein deutschsprachiges Umfeld mehr habe. Aber um etwas davon in mir zu bewahren, lese ich die Bibel und Werke deutscher Schriftsteller im Original. Zuhause sprachen wir übrigens in einem hessischen Dialekt, meine Neffen jedoch haben alle schon das Russische angenommen.

Gerold Belger, vielen Dank für das Gespräch! Wir wünschen Ihnen Gesundheit, langjährige nicht versiegende Schöpferkraft und Wohlergehen für Ihre Familie!

Interview führte Olessja Klimenko. Übersetzung: Malina Weindl.

Teilen mit: