Nach Angaben von kirgisischen Nichtregierungsorganisationen (NROs) werden jährlich 15.000 Frauen entführt, um sie dann zwangsweise zu verheiraten. Obwohl Brautraub in Kirgistan als Straftat gilt und mit fünf bis zehn Jahren Freiheitsentzug bestraft wird, werden fast 50 Prozent der Ehen nach einem Brautraub geschlossen. Jyldiz aus Naryn erzählt ihre Geschichte.

Brautraub heißt auf Kirgisisch „ala kachuu“ und bedeutet wörtlich „grapsche und hau ab“. Über Brautraub gibt es in der kirgisischen Gesellschaft eine große Debatte: Für die eine, patriarchalisch geprägte Seite ist Brautraub eine kirgisische Tradition. Die andere Seite sieht Brautraub als Straftat an, die die Rechte von Frauen verletzt.

Seit 2013 gibt es im kirgisischen Strafgesetzbuch für Brautraub einen eigenen Paragraphen. Dieser sieht für die Entführung von Mädchen, die jünger als 17 Jahre alt sind, mit dem Ziel sie zu verheiraten, eine Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren vor. Dies wird jedoch nur selten umgesetzt, weil die Strafverfolgungsbehörden Fälle von Brautraub kaum verfolgen. Sie sind Teil der patriarchalen Gesellschaftsstrukturen und schützen die Täter vor ihrer gerechten Strafe.

Brautentführung ist keine Tradition

Immer mehr Nichtregierungsorganisationen kämpfen dagegen an, dass Brautentführung eine kirgisische Tradition sein soll. Dabei werden sie auch von zivilgesellschaftlichen Akteuren aus dem Inland und Ausland unterstützt. Swetlana Dsardanowa arbeitet an der OSZE-Akademie in Bischkek. Sie führte in Kooperation mit dem deutschen Institut für Auslandsbeziehungen ein Projekt durch, das Menschenrechtsaktivisten, Feministen, Journalisten, Historiker, Soziologen und Schriftsteller sowie Vertreter aus religiösen Organisationen zusammenbringt.

Der erste Teil des Programms, die Diskussionsrunde in der OSZE-Akademie in Bischkek. | Bild: Lidia Chikalova

In einem ersten Treffen ging es um die aktuellen Rechtsgrundlagen, lokale Projekte, die Rolle der Medien und den Erfahrungsaustausch über die Genderpolitik in Kirgisistan. Die Schriftstellerin Altyn Kapalowa hat eine Erzählung geschrieben, in der Stereotypen von Frauen wie „Kinder, Küche, Kirche“ entgegentreten werden soll. Im Dezember soll die Genderexpertin Rimma Sultanowa einen Workshop mit Jugendlichen in Naryn durchführen.

Es geht um die Gleichstellung der Geschlechter sowohl in der Verfassung als auch in der Gesellschaft. Sultanowa will mit den Jugendlichen auch Filme anschauen, die Brautraub romantisieren, und mit ihnen darüber diskutieren. Dsardanowa erwartet rund 50 Teilnehmer, aus den Klassenstufen 8 bis 10: „Wir hoffen, dass mithilfe unseres Projektes die Gesellschaft ihr Verhältnis zu Frauen ändert und Brautraub als Straftat angesehen wird. In Zukunft wollen wir nicht nur Jugendliche erreichen, sondern auch ihre Eltern und Angestellte der Strafverfolgungsbehörden.“ Außerdem will Dsardanowa Gender Studies als Pflichtfach in Schulen einführen.

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Jyldiz: „Ein Freund meines Bruders entführte mich“

Im Folgenden erzählt Jyldiz (Name von der Redaktion geändert) aus Naryn ihre Geschichte. Sie wurde vor zwei Jahren entführt. In ihrer Familie ist Brautraub keine Seltenheit.
„Ich war 19 Jahre alt und gerade mit dem ersten Studienjahr an der Amerikanischen Universität in Bischkek fertig. Ich fuhr zu meinen Eltern nach Naryn, um meine Sommerferien dort zu verbringen. Mein Bruder, der nur ein Jahr älter ist, lag damals im Krankenhaus und meine Eltern besuchten ihn.

Es war Nachmittag. Ich fegte gerade den Hof, als ein Mitschüler meines Bruders an die Haustür klopfte. Ich kannte Aybek wie die anderen Mitschüler meines Bruders vom Sehen her, aber wir haben uns fast nie unterhalten. Unsere Eltern sind befreundet. Als ich ihm die Haustür öffnete, fragte er, wie es meinem Bruder gehe. Während ich ihm von meinem Bruder erzählte, fuhr ein Auto vor. Es stiegen fünf Jungs aus, zwei hielten mich fest und stießen mich mit Zwang ins Auto. Erst dachte ich, es sei ein Witz, später verstand ich, dass ich entführt worden war.

Ich wusste zunächst nicht, welcher der fünf mich heiraten wollte. Ich kannte alle von ihnen. Sie waren Mitschüler meines Bruders. Im Auto haben sie mein Handy weggenommen, damit ich niemanden kontaktieren kann. Die Fahrt dauerte gar nicht lange, bis wir an Aybeks Haus angekommen waren. Es waren viele Leute dort, die offensichtlich eine Feier vorbereiteten.

Ich verfiel in Panik, aber die Frauen brachten mich gewaltsam in ein Zimmer, wo bereits die Kinder der Familie in der sogenannten Eheecke warteten. Viele der Gäste waren bereits am Feiern. Die Frauen brachten mir ein Kopftuch. Nimmt man es und trägt es, bedeutet dies, dass man mit der Ehe einverstanden ist. Ich lehnte allerdings ab und forderte, dass ich nach Hause gehen kann.

Ich fragte die Frauen, was passiere, wenn man ihre Tochter einfach entführen würde. Sie sagten, es sei in Ordnung und behaupteten, dass sie selbst auch irgendwann einmal geklaut worden und jetzt trotzdem glücklich seien. Sie sagten, wie ich Glück gehabt habe, dass mich der Sohn dieser Familie entführt habe, der weder raucht, noch Alkohol trinkt und sogar an der Uni studiert.

Sie versuchten mich zu überzeugen, das Kopftuch aufzusetzen. Ich saß weinend in der Eheecke und versuchte, keinen an mich heranzulassen. Nach ein paar Stunden kamen meine Eltern und nahmen mich mit nach Hause. Ich werde für immer an den psychischen Folgen dieses Vorfalls leiden.

Zum Glück haben sich meine Eltern nicht für die Tradition, sondern für mich entschieden. Ich bin ihnen dafür sehr dankbar. Aybek habe ich seitdem nicht mehr gesehen. Unsere Eltern sind aber weiterhin befreundet. Auch mein Bruder, der ihn danach verprügelte, ist nicht mehr sauer auf Aybek. Noch immer fragen mich Leute, warum ich nicht bei ihm geblieben sei. Vielleicht war ich mit meinem Aussehen und meinem Verhalten ihm gegenüber selbst schuld, dass er mich entführte.

Auch meine Tante wurde drei Mal entführt, aber alle drei Male brachten meine Großeltern sie zurück. Die Leute fragten sie, ob sie keinen Mann für ihre Tochter wollen oder ob ihnen die hiesigen Männer nicht gut genug seien. Beim vierten Mal haben sie sie nicht zurückgeholt. Meine Tante hat sich mittlerweile an ihr Leben gewöhnt.

Mein Cousin wollte letztes Jahr heiraten, aber am Hochzeitstag entführte ein anderer aus dem Dorf seine Braut. Da ihre Eltern sowieso gegen die Heirat mit meinem Cousin waren, haben sie ihre Tochter bei dem Entführer gelassen. Mein Cousin konnte sie nicht finden. Später hat er ein fremdes Mädchen entführt, sie geheiratet, sich aber nach zwei Monaten wieder scheiden lassen“.

Turonbek Kosokow

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