Erfolgsmodelle, Herangehensweisen und Denkmuster anderer Leute oder Länder kann man in der Regel gar nicht oder nur unvollkommen kopieren. Schließlich gibt es bei persönlichen und gesellschaftlichen Prozessen immer eine spezifische Kombination der unterschiedlichsten Faktoren, die sich entweder genetisch oder entwicklungshistorisch nur schwer kopierbar herausgebildet haben. Andererseits jedoch ist es nicht nur interessant, sondern auch durchaus notwendig, Erfahrungswerte von Dritten zu analysieren, weil grundsätzliche Dinge natürlich immer erlernbar sind.

Im Moment befindet sich die Weltwirtschaft in einer Mischlage, die Entwicklungsperspektiven sind nicht eindeutig identifizierbar. Einerseits scheinen die USA – nach wie vor mit großem Abstand die Weltwirtschaftsmacht Nr. 1 – produktionsseitig langsam wieder auf die Beine zu kommen, die gewaltigen Staatsschulden können das mittelfristig jedoch wieder abwürgen. China, in der jüngsten Wirtschaftskrise Konjunkturlokomotive für den Rest der Welt, hat ein paar Gänge zurückgeschaltet und verspricht ein Wirtschaftswachstum von „nur“ noch etwa 7 % statt der bisher üblichen 10 %. Damit steigt die Nachfrage nach Importwaren wohl auch langsamer als erwartet und bei gleichzeitiger Orientierung Chinas auf Stärkung der Binnennachfrage wird sich der Export billiger chinesischer Produkte verlangsamen, was unterschiedlich Folgen nach Weltregionen hat. Der hohe Ölpreis tut, was er kann, um die Konjunkturaussichten mit Fragezeichen zu versehen. Europa als Ganzheit fällt infolge der Krise der Staatsfinanzen als Welt-Wachstumsmotor wohl auf Jahre aus. Die einzige Ausnahme in dieser unübersichtlichen Gemengelage ist im Moment Deutschland, deren Wirtschaft vor Kraft strotzt. Das ruft durchaus manche Verwunderung in der Welt hervor, wurde doch noch vor ein paar Jahren von Deutschland als „krankem Mann“ Europas gesprochen, weil seine Wachstumsraten weit hinter denen der anderen europäischen Staaten zurückgeblieben waren. Sogar der französische Präsident hat neulich seine Landsleute angemahnt, von der deutschen Wirtschaft das „Wie“ zu lernen. Das kommt nun zwar keiner Sensation gleich, zumindest aber war es im stark staatsgetriebenen Wirtschaftsleben Frankreichs bisher nicht gerade üblich, sich die eher markt- und unternehmensorientierten Strukturen des östlichen Nachbarn als Vorbild zu nehmen.

Eine Art Geheimnis der deutschen Wirtschaft aber gibt es nicht. Die deutsche Wirtschaft nutzt im Moment „nur“ eine historisch einmalige Chance, nämlich die, dass sich solche großen Schwellenländer wie China, Indien, Brasilien und Indonesien gleichzeitig die Aufgabe gestellt haben, ihre Produktionsbasis in Richtung moderner Technologien umzubauen. Dazu brauchen diese Staaten modernes Know-How in Form von energie- und materialeffizienten Maschinen und Anlagen, und genau das haben viele deutsche Firmen im Angebot. Im Unterschied zu anderen westlichen Industriestaaten hat die deutsche Wirtschaft die Orientierung auf den Dienstleistungssektor nur teilweise mitgemacht und sich einen außerordentlich leistungsfähigen Industriesektor erhalten. Das deutsche Erfolgsrezept ist letztlich die kompromisslose Orientierung auf Innovationen, auf weltweiten Absatz und auf tiefe Integration in die internationale Arbeitsteilung. Dabei stammt diese Orientierung nicht von irgendwelchen staatlichen Programmen her (die es als Unterstützung der Unternehmen natürlich auch gibt), sondern sie ist seit der Zeit der Industriealisierung vor über 150 Jahren organisch gewachsen. Der Offenheitsgrad der deutschen Wirtschaft, also das Verhältnis von Export und Import zum PIB als übliches Maß für den Grad der Einbindung einer Volkswirtschaft in die internationale Arbeitsteilung, liegt schon aus den Zeiten vor dem 1. Weltkrieg bei über 40 % und ist insbesondere seit 1990 rasant gestiegen. Dieses bewusste „Sich-dem-internationalen-Wettbewerb-Stellen“ ist eine wichtige allgemeine Voraussetzung für konkurrenzfähige und hochproduktive Erzeugnisse und gutbezahlte Arbeitsplätze. Hinzu kommt das weitgehende Fehlen einer heimischen Rohstoffbasis als ein eher positiv wirkender Faktor. Deutschland musste schon immer rationell mit den importierten Rohstoffen umgehen, was sich längst zu einem einträglichen Produktionssektor ausgeweitet hat. Die aktuell und wohl auch perspektivisch hohen Preise für das zu importierende Öl z. B. werden deshalb von vielen deutschen Firmen eher als Chance denn als Bedrohung wahrgenommen. Schließlich lässt das die Nachfrage nach energieeffizienter Technik steigen, und die kann man mit hohem qualitativen Niveau eben bei den Deutschen beschaffen.

Bodo Lochmann

Teilen mit: