Deutsche Musik- und Theaterkultur an der Wolga

2019 jährt sich die Gründung der ASSR der Wolgadeutschen zum 95. Mal. Aus diesem Anlass nimmt „Volk auf dem Weg“ in einer Beitragsserie verschiedene Aspekte der wolgadeutschen Kulturgeschichte, insbesondere in den Jahren von 1918 bis 1956, unter die Lupe. Wir übernehmen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Bereits seit 1918 funktionierte das Symphonieorchester der Staatlichen Philharmonie der Wolgadeutschen. Um etwa 1935 wurde auch das Deutsche Lied- und Tanzensemble gegründet, das aus einem Chor und einer Tanzgruppe bestand, bei den Allunionswettbewerben in Moskau gut abschnitt und mit zahlreichen Konzerten in der Region aufwartete. Zum Aufbau des nationalen Repertoires trug maßgeblich der Musiker Gottfried Schmieder (1902-1965) bei. Auf Regierungsbeschluss wurden in Engels 1931 (offizielle Eröffnung 1932) ein Akademisches Deutsches Staatstheater und ein Staatliches Kindertheater gegründet. In Marxstadt und Balzer entstanden 1935 zwei örtliche Bühnen, die sogenannten deutschen Kolchos-Sowchos-Theater. In Moskau gründeten deutsche Emigranten die „Kolonne Links“ (1941 aufgelöst) – das Theater gastierte schon 1934 in Engels und dessen Schauspieler brachten sich auch im Wolgagebiet ein.

Baumann
Schauspieler des Deutschen Staatstheaters Engels: Nikolai Baumann (1934).

Der Werdegang des Deutschen Staatstheaters in der Wolgarepublik war trotz staatlicher Unterstützung alles andere als leicht. Es mangelte vordergründig an Fachkräften, das Schauspielensemble setzte sich aus jungen Wolgadeutschen zusammen, die sich zuvor höchstens als Laienspieler in örtlichen Theatergruppen engagierten. Die ersten Schritte des Theaters wurden auch dadurch erschwert, dass nicht alle jungen Schauspieler ausreichende Kenntnisse der deutschen Hochsprache (Bühnendeutsch) mitbrachten.

Einige Jahre hindurch wirkten am Deutschen Staatstheater einige Schauspieler aus Deutschland mit. Sie sprachen zwar ein perfektes Deutsch, aber auch ihre Bemühungen waren nicht von Erfolg gekrönt. Der Unterschied zwischen der Mundart und dem Hochdeutsch wurde dadurch noch auffälliger.

Viele von diesen Schauspielern kehrten auch bald wieder in ihre Heimat zurück. Zum Schauspielkern gehörten unter anderen Leo Gläser, Viktor Lang, Nikolaus Baumann, Robert Kling, Robert Faller, Ph. Brausemann, Marie Winschu, Herta Jörsch, Karl Nichelmann u.a., aber auch die hatten meist keine systematische Berufsausbildung – nur einige von ihnen hatten einen kurzfristigen Lehrgang absolviert. Um Nachwuchs für das Deutsche Staatstheater zu fördern, wurde am Theater ein dreijähriges Theaterstudio eingerichtet, wo erfahrene „hauseigene“ Schauspieler wie Gläser, Baumann, Lang, Faller oder Brausemann Unterricht erteilten.

Auf dem Spielplan des Deutschen Staatstheaters standen neben klassischen internationalen Bühnenstücken (Shakespeare, Lessing, Moliere, Goldoni, Gogol, Tschechow, Ostrowski) auch moderne russische sowie deutsche Dramatik. Zu den erfolgreichsten Darbietungen, der auch die Presse und die Theaterkritiker ausführliche Rezensionen widmeten, gehörte unter anderem das Drama „Der Kreidekreis“ von Klabund (eigentlich Alfred Henschke, deutscher Schriftsteller).

Das Bühnendeutsch und das klassische Repertoire, mit dem sich die wolgadeutschen Zuschauer kaum identifizieren konnten, hatten zur Folge, dass man zunehmend auch Stücke, die das Leben in den wolgadeutschen Siedlungen thematisierten, auf die Bühne brachten. So gehörten zum Repertoire des Deutschen Staatstheaters nach kurzer Unterbrechung wieder die Stücke von Andreas Saks (1903-1983), der in den 1930er Jahren als Dramatiker an die Öffentlichkeit trat. Das erste „sowjetdeutsche“ Bühnenstück, das 1932/1933 im Deutschen Staatstheater zur Aufführung gelangte, war die Darbietung „Die Quellen sprudeln“ (Kufeld/Saks). Das nächste Bühnenstück von Andreas Saks war „Pater Wutzkis Höllenfahrt“, eine Satire auf das Kulakentum und die Geistlichkeit im deutschen Dorf. Darauf folgten „Fritz wird ein Held“, ein Märchen mit Tänzen und Liedern (vertont von Gottfried Schmieder), und „Franz Kraft“ – ein Festspiel zur 15. Jahresfeier der Autonomie (geschichtliche Chronik von 1763 bis 1933). 1940 kam noch „Die misslungene Maskerade“ über den Anschluss der Westukraine an die Sowjetunion hinzu. Das letzte von Saks in der Vorkriegszeit verfasste Bühnenstück war das Stück „Der eigene Herd“, das die Folgen der Stolypinreform in den deutschen Wolgasiedlungen behandelte und 1940 seine Premiere am Akademischen Staatstheater Engels erlebte.

Auch um die Zuschauergunst hatte das junge Theater hart zu kämpfen. Das Ansehen des Theaters und der Zuschauerbesuch besserten sich während und nach den Gastspielen in Balzer, Seelmann, Marxstadt und auf der Krim. Eine besonders gute Aufnahme hatte das Theater in Seelmann – hier wurde oft die Freude über die Möglichkeit, Deutsch von der Bühne zu hören, ausgesprochen. Auch die Gastspielreise auf die Krim 1934 gehörte zu den erfolgreichsten ihrer Art, wodurch der Kontakt zwischen den Schauspielern und Zuschauern um vieles enger wurde.

Nikolaus Baumann (links) in „Don Carlos“ von Schiller, 1934/1935.
Nikolaus Baumann (links) in „Don Carlos“ von Schiller, 1934/1935.

Um 1935 wurde der Exil-Regisseur Erwin Piscator als neuer Theaterleiter berufen. Nach seiner Vorstellung sollte das Theater in Engels auf hohem Niveau „als Wahrer und Fortsetzer des großen deutschen Kulturwertes“ dienen, „Vergangenheit und Gegenwart des wolgadeutschen Volkes“ darstellen und insbesondere antifaschistische und sozialistische Stücke aufführen. Er bevorzugte für sein Projekt deutsche Exilschauspieler, denn das Niveau der meisten wolgadeutschen Darsteller war ihm zu niedrig. Aber schon 1937 musste Piscator die Sowjetunion verlassen. Seinem Nachfolger Bernhardt Reich (danach Curt Trepte), der 1926 in die Sowjetunion emigriert war, gelang es 1936 noch, die erste Shakespeare-Aufführung vor wolgadeutschem Publikum zu zeigen. Ende der dreißiger Jahre machte das Theater noch eine Gastspielreise nach Moskau. In einer renommierten Fachschrift konnte man danach eine ausführliche Rezension einer prominenten Kunstkritikerin über das Theater nachlesen, wobei die Erfolge des Theaters hervorgehoben und einigen Darstellern beträchtliches Lob gespendet wurden. Zuletzt brachte man „Die Räuber“ von Friedrich Schiller auf die Bühne.

Mit der Auflösung der ASSRdWD nach dem Erlass vom 28. August 1941 musste auch das Deutsche Staatstheater seine Tätigkeit einstellen: Fast 50 Theatermitarbeiter deutscher Nationalität gingen in die Verbannung.

Nina Paulsen

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