Im Rahmen des regionalen Kulturprojekts (Dis)Solutions des Goethe-Instituts fand vom 26. bis 27. Oktober ein Netzwerktreffen in Almaty statt. Personen aus Kunst, Kultur, Wissenschaft und Journalismus sowie Interessierte kamen zusammen, um aktuelle Debatten rund um Dekolonialisierung und Postkolonialismus in Osteuropa, Zentralasien, Südkaukasus und den baltischen Staaten zu diskutieren und reflektieren.

Das vom Goethe-Institut initiierte Regionalprojekt startete im Januar diesen Jahres. Seither kartierten sechs Expertinnen und Experten aus Armenien, Estland, Kasachstan, Kirgisistan, der Ukraine sowie der Republik Moldau Projekte rund um das Schlagwort Dekolonialisierung in Kultur und Zivilgesellschaft.

Eröffnet wurde das Netzwerktreffen mit einer Sandyq-Performance. Mitarbeitende des Goethe-Instituts und Speaker stellten Gestände sowie deren Bedeutung in Verbindung mit dem diskutierten Thema vor. So holten sie beispielsweise das kasachische Musikinstrument Dombra oder ein ‚Oramal‘, eine Art Kopftuch, aus der Truhe, und erzählten von Familiengeschichten, persönlichen Erfahrungen und Verbindungen zu dem Gegenstand. Nach dem Auftakt begrüßten Dr. Heike Uhlig, Regionalleiterin des Goethe-Instituts für Osteuropa und Zentralasien, sowie Mario-Ingo Soos, Generalkonsul der Bundesrepublik Deutschland, mit einleitenden Worten. „Das Projekt soll eine Plattform bieten für Stimmen, die nicht genug gehört werden, und Regionen, die in postkolonialen Diskursen wenig sichtbar sind“, so Uhlig.

Gesellschaftliche Herausforderungen in Kunst und Kultur

Aïda Adilbek, Asel Jeszhanowa und Leyla Zuleikha Makhmudowa führten in dekoloniale Praktiken in Kasachstan und Zentralasien ein. Adilbek ist Künstlerin in Almaty und Teil des DAVRA Kollektivs. Sie stellte unterschiedliche Kunstprojekte in Kasachstan vor, die beispielsweise Erinnerungskultur oder Migration verarbeiten. Adilbek rief in ihrem Vortrag dazu auf, Geschichte mittels Kunst aufzuarbeiten, dominante Erzählweisen zu prüfen und Neues zuzulassen: „Wir tendieren dazu, nationale Kunst archaisch zu machen, wir stecken sie in ein Museum. Dabei ist kein Raum für Wandel mehr möglich. Kultur ist aber nicht nur Tradition, sondern auch zeitgenössisch. Wir brauchen dringend Graswurzelinitiativen in Kunst und Kultur, und zwar aus weniger privilegierten und sichtbaren Perspektiven“. Laut der Künstlerin verhandelt zeitgenössische Kunst aktuell drängende Fragen bezüglich kasachischer Identität, Post- und Dekolonialität.

An diese aktuellen Fragen knüpfte Jeszhanowa, Architektin und Mitbegründerin des Urban Forum Kazakhstan, an. Das Forum ist die erste unabhängige, auf Urbanismus spezialisierte Stiftung in Kasachstan. Jeszhanowa zeigte anhand von Beispielen auf, wie Architektur als politisches Mittel fungiert, und machte auf die Sichtbarkeit politischer Umbrüche in gebauter Umwelt aufmerksam. Anschließend führte sie in aktuelle architektonische Entwicklungen im unabhängigen Kasachstan ein, beispielsweise in der Hauptstadt Astana.

Wie sehr all die in den Vorträgen angeschnittenen gesellschaftlichen Herausforderungen zusammenhängen, verdeutlichte Makhmudowa, Gründerin der Organisation FemAgora. Sie erzählte von der Vision einer Vielfalt feministischer Realitäten und betonte, Regionalität außerhalb von nationalen Grenzen zu denken. Einen besonders wichtigen Denkanstoß lieferte sie in Bezug auf die häufig sehr theoretisch geführten Diskurse über Dekolonialität: „Das sind praktische Aufgaben und nicht irgendeine Theorie zum Analysieren. Es ist einfach da, und genau so sind es die Menschen. Es gibt Wissen, das wir haben. Auch unsere Kommunikation ist Expertise. Wessen Expertise vertrauen wir? Von wem möchten wir etwas lernen?“

Die Kartierung der Expertinnen und Experten

Im Fokus der Veranstaltungen standen die Kartierungen der dekolonialen Kunstprojekte, welche die Expertinnen und Experten aus sechs postsowjetischen Staaten vorstellten. Für die Anfangsphase des Projekts sollten sie herausfinden, wie aktuelle Diskurse aussehen, welche künstlerischen Praktiken existieren und welche Themen diskutiert werden. Von besonderem Interesse waren dabei marginalisierte Perspektiven, beispielsweise die Stimmen von Frauen und queeren Personen.

Die Expertinnen und Experten kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Tigram Amiryan aus Armenien ist Kulturforscher, Literaturkritiker, Kurator und Semiologe. Er gründete die NGO Cultural and Social Narratives Laboratory (CSN Lab) in Jeriwan und beschäftigt sich unter anderem mit Verschwörungsdiskursen, kollektivem Gedächtnis und Migration. Während der Kartierung stellte Amiryan fest, dass Sprache ein besonders sensibles Thema in Armenien ist. Er beobachtete außerdem im Rahmen des Mappings den Dialog zwischen den seit der Mobilisierung aus Russland Ankommenden sowie Armenierinnen und Armeniern.

Die estnische Journalistin Mari Peegel schaltete sich online zur Veranstaltung hinzu. Sie arbeitete als Kulturredakteurin der Tageszeitung Eesti Päevaleht sowie in der Redaktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Während ihres Mappings ist Peegel sehr selten auf den Begriff der Dekolonisierung getroffen, er schien nicht geläufig zu sein. Auch findet laut Peegel wenig Erinnerungsarbeit statt: „Es ist schmerzhaft und könnte gesellschaftliche Strukturen umwälzen“. Jedoch stieß die Journalistin während des Mappings auf einige Kunstprojekte von Graswurzelinitiativen.

Der rumänische Philosoph, Übersetzer und Pädagoge Ovidio Tichindeleanu ist bei seinen Recherchen zu Moldau und Rumänien ebenfalls auf Projekte in Kunst und Kultur gestoßen. Er schreibt und lehrt insbesondere über kritische Gesellschaftstheorie, Bild- und Klanggeschichte sowie (Post-)Sozialismus. Tichindeleanu zieht Vergleiche zwischen dekolonialen Diskursen in anderen Regionen und spricht von Moldaus Geschichte zwischen verschiedenen Imperien. Er verdeutlicht die häufige Außerachtlassung Moldaus mittels eines Buchs aus dem Jahr 2016, in dessen Karte Moldau schlichtweg nicht abgebildet ist.

Auch die Künstlerin, Kulturanthropologin und Essayistin Lia Dostlieva, geboren in Donezk, ist Expertin für ein Land zwischen Imperien. Dostlieva arbeitet mit verschiedenen Medien und befasst sich schwerpunktmäßig mit dekolonialen Narrativen und kollektiven Traumata. Dostlieva stellte fest, dass diese Narrative in der Ukraine sehr zukunftsorientiert sind und aktuell eine Vielzahl an Projekten entstehen. „Es geht darum, wie man jetzt mit diesem Vermächtnis umgeht, was als Nächstes kommt“, so Dostlieava. Andrii Dostliev, der an Dostlievas Stelle vor Ort war, hob die Relevanz von Kunst in unterschiedlichen Sprachen hervor: „Sprache hängt eng zusammen mit Wissensproduktion. Für die Dekolonialisierung von Wissen müssen also Projekte in verschiedenen Sprachen gefördert werden“.

Elmira Nogoibaeva hingegen legt den Schwerpunkt in ihrer Arbeit auf Vergangenes. Sie ist Wissenschaftlerin, Leiterin des analytischen Zentrums Polis Asia sowie Gründerin der Forschungsseite Эсимде (kirgisisch für „Ich erinnere mich“). „Dekolonialisierung – das ist auch Erinnerung. Wir haben Kultur, Philosophie, Vergangenheit. Das ist eine Rückkehr zu sich, aber keineswegs nur Nostalgie, es geht auch ums Aufwachen für die Unabhängigkeit“, erklärte Nogoibaeva, die sich hauptsächlich mit Erinnerungsarbeit und -kultur beschäftigt. Sie regte dazu an, sich mit der Bedeutung des Begriffs in dem regionalen Kontext auseinanderzusetzen und diese Diskurse nicht zu emotionalisieren, auch wenn sie mit persönlicher Geschichte zusammenhängen.

Dekolonialisierung ist kein neues Phänomen

Auch die Expertin für Kasachstan, Kamila Smagulova, ist Wissenschaftlerin. Ihre Forschungsinteressen sind unter anderem Nationalismus, politische Kultur sowie Darstellung von Frauen in kasachischer Geschichte. Aktuell ist Smagulova Lane-Kirkland-Stipendiantin in Warschau zur Untersuchung der Erinnerungspolitik in Kasachstan und Georgien. Ähnlich wie Amiryan hebt auch sie die Sprachpolitik hervor und verbindet diese mit Kasachstans Geschichte rund um Deportationen und Migration: „Nach 32 Jahren der Unabhängigkeit brauchen wir Sprachaktivistinnen und -aktivisten“. Dekolonialisierung, so Smagulova, sei schon lange im Geschehen. „Wir haben einfach später den Begriff dafür entdeckt“.

Einige Gemeinsamkeiten fallen trotz der historischen und aktuellen Unterschiede in den sechs postsowjetischen Staaten auf: Die kartierten Projekte sind meist von Graswurzelinitiativen initiiert, sie könnten als Kunst des Protests verstanden werden. In der breiten Gesellschaft ist der Begriff kaum verbreitet. Daher ist die Vernetzung von Personen aus Kunst, Kultur, Wissenschaft und Journalismus umso wichtiger. Dies soll im Zuge des (Dis)Solution-Projekts weiterhin möglich sein. Neben den Texten über die Kartierung, die in Kürze durch das Goethe-Institut veröffentlicht werden sollen, wird das Projekt noch andauern. Eine internationale Plattform für Austausch und Vernetzung soll so entstehen.

Sasha Borgardt

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