Züge waren einmal das Hauptverkehrsmittel Nummer Eins in der Sowjetunion. Mit einem Schienennetz von 147.400 Kilometern stieg der Zugverkehr innerhalb von 69 Jahren drastisch an – um das 55-fache beim Güterverkehr und fast um das Zehnfache im Bereich des Personenverkehrs. Noch am Vorabend des Untergangs der Sowjetunion verwalteten die Sowjetischen Eisenbahnen eines der bis dahin größten Schienennetze der Welt. Von der revolutionären Modernisierung, welche diese Züge einst versprachen, ist heute allerdings nicht mehr viel zu spüren.

Wer schon einmal von Kasachstan gehört hat, weiß, dass es vor allem eines ist: groß. Doch im Zeitalter der Globalisierung haben wir es geschafft, selbst die 1.700 Kilometer zwischen Almaty und Petropawlosk auf zwei Flugstunden zu reduzieren. Wer jedoch eine „authentischere“ Erfahrung bevorzugt, oder schlicht und einfach nicht das Budget für solch modernen Luxus hat, kann immer noch auf den guten, alten Zug umsteigen.

Zwar hat Kasachstan seit der Unabhängigkeit massiv in den Ausbau und die Modernisierung seiner Schienenwege investiert – um die Fahrtzeiten zwischen seinen Metropolen zu verringern, aber auch im Rahmen von Chinas Seidenstraßen-Initiative.

Doch gilt das bei weitem noch nicht für alle Strecken des Landes. Und auch in vielen Zügen geht es noch gemächlich zu. Meist langsamer als ein Bus, lässt das Schlafabteil eines Langstreckenzuges selbst im Januar noch Sommertemperaturen zu, während man auf seiner Liege, eingekapselt von dreißig anderen menschlichen Körpern, vor sich hinvegetiert.

Freundschaften schließt man auf Reisen

Es hat schon etwas nahezu Meditatives, wenn nach zwölf Stunden Fahrt der Handyakku leer geht und man plötzlich komplett auf sich allein gestellt ist. Bis der Faden reißt – genug mit Selbstreflexion – und man das tut, wovor man die ganze Zeit schon Angst hatte: Man spricht mit Fremden. Eine scheinbar schon fast ausgestorbene kulturelle Praxis, die in den engen Räumen zwischen schmalen Etagenbetten und an den wackligen Tischen des Esswagons ihre Renaissance erlebt.

Freundschaften werden eingegangen, Familien gegründet, Feinde gemacht und Liebe gefunden, in dieser atomaren Zeitkapsel, unantastbar für Raum und Zeit, wo alles noch so ist, wie vor 69 Jahren. Im 28-Stunden-Zug nach Öskemen, auf einer eingleisigen, nicht elektrifizierten Strecke in den Osten Kasachstans. Was haben diese Züge wohl noch so gesehen?!

Öskemen (Ust-Kamenogorsk)

Die Stadt liegt im Osten Kasachstans und ist Hauptstadt des Verwaltungsbezirks Ostkasachstan. 300.000 Menschen, mehrheitlich mit russischen Wurzeln, leben in der Stadt, die ein Zentrum des Bergbaus und der Metallverarbeitung ist. Menschen mit deutscher Herkunft belegen in der heute stark industriell geprägten Stadt nach den Kasachen den dritten Platz. Öskemen gilt auch als „Tor zum Altai“, weil von hier aus Touren in die Gebirgslandschaft unternommen werden können.

Daria Lysenko

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