Clara Momoko Geber, Japanologin und Slawistin, begab sich in der ersten Jahreshälfte auf die Suche nach InformantInnen zum Thema „Japanische Kriegsgefangene in Kasachstan und ihre Hinterlassenschaften“. Die stärkste Korrelation zwischen Kasachstan und Japan bestand im Zweiten Weltkrieg, als japanische Soldaten in sowjetischen Gefangenenlagern festgehalten wurden. Diesem Recherchethema ging sie in Kasachstan in Archiven, Expertengesprächen und Ortsbesichtigungen nach. Ihre Ergebnisse fasst sie in Form einer Artikel-Serie für die DAZ zusammen. Im letzten Teil der Serie berichtet sie von ihrem Treffen mit Ahiko Tetsurō und berichet über ihre Forschung an sich.

[…] Der 87-jährige Japaner Ahiko Tetsurō wohnt mit seiner Ehefrau Elena in einer Wohnung in Aktas, nahe der Hauptstadt Kasachstans. Es sind nun fast 70 Jahre vergangen, seit der Japaner als Zwangsarbeiter nach Kasachstan gebracht wurde. Er musste in Minen arbeiten, um Kohle, Eisen, Edelsteine und Gold abzubauen. Diese Zeit überlebte Tetsurō wie durch ein Wunder. Nach Stalins Tod 1953 wurde Tetsurō aus dem Lager freigelassen, konnte jedoch aufgrund eines Registrierungsfehlers im Namensregister von Kriegsgefangenen nicht mit den anderen Soldaten in sein Heimatland zurückkehren. „Ich habe die japanische Sprache leider nur mehr selten verwendet und alles vergessen. Vor 54 Jahren habe ich noch fließend gesprochen, aber jetzt nicht mehr.“

Seit Bekanntwerden seiner Lebensgeschichte besuchen ihn vereinzelt Reporter, um über sein Schicksal zu berichten. Nur sehr selten kommen Gäste aus Japan zu dem Paar, weshalb Tetsurō nicht oft die Möglichkeit hat, sich auf Japanisch auszutauschen. Er spricht im Alltag nur Russisch und seltener Kasachisch. Im Laufe des Gesprächs verwendete er aber immer häufiger seine Muttersprache.

Harte Arbeit in der Mine

Ahikos Ehefrau Elena. | Bild: Autorin

„Ich wurde auf Sachalin geboren. Früher war es ein Teil von Russland, denn die Japaner haben während des Krieges den Russen das Land weggenommen. Japan war früher ein armes Land, deshalb wurden Jugendliche nach Russland gebracht, um dort zu arbeiten. Meine Eltern waren dort und haben das verdiente Geld nach Japan geschickt. Sie verrichteten schwere körperliche Arbeit in Lagern und Kohleminen. Nach der achten Schulklasse habe ich an einer Militärschule studiert. Während des Krieges wurde ich ins Heer einberufen und konnte dann nicht mehr nach Japan zurückkehren. Ich wurde von der sowjetischen GPU gefangen genommen. Obwohl ich nichts Schlimmes getan hatte, wurde ich am 13. Juli 1948 festgenommen und nach Kasachstan gebracht.“

Die Zwangsarbeit in der Sowjetunion bestand primär aus schwerer körperlicher Arbeit in Minen. Die häufigsten Todesursachen dort waren Nahrungsmittelmangel, Kälte und mangelnde Hygiene. Nach seiner Freilassung aus der Gefangenschaft konnte jedoch nicht nach Japan zurück. Ohne gültige Papiere und Arbeit musste er sein Leben neu ausrichten. „Es gab in Aktas eine Mine, wo ich dann zum Glück arbeiten konnte – ich hatte aber keinen Schlafplatz und nichts zu essen, weil ich kein Geld besaß. Zu diesem Zeitpunkt ist aber etwas gebaut worden, was mein Leben rettete: eine Mensa, wo Bauarbeiter einer naheliegenden Kohlemine Zutritt hatten.

Am Abend um 12 Uhr wurde diese Mensa geöffnet, damit die Bauarbeiter in Schichten essen konnten. Wenn eine Gruppe gegessen hat, wechselte sie sich mit einer anderen ab. Dazwischen wurde dann wieder in der Mensa gekocht und das Essen zu den Tischen gebracht. Weil ich kein Geld hatte, wartete ich, bis die übriggelassenen Essensreste der Arbeiter zwischen dem Gruppenaustausch unbeaufsichtigt waren und stahl diese.“

Keine Rückkehr nach Japan

Nach der offiziellen Freilassung versuchte der Japaner, auf eigene Faust nach Japan zurückzukehren und kontaktierte unzählige Male die Botschaft in Moskau – erhielt jedoch immer nur Absagen. „Ich wusste irgendwann nicht mehr, wie ich die Briefe formulieren soll, um eine Genehmigung zu bekommen. Als ich schließlich doch nach Japan einreisen konnte, waren meine Eltern schon verstorben.“

1954 erhielt er über Reisende Geld von seinem Bruder aus Hokkaido, was ihm einen drei Monate langen Aufenthalt in Japan ermöglichte. Das nächste Mal reiste Ahiko Tetsurō 2011 zu seiner gesundheitlichen Rehabilitation in seine Heimat. Zu diesem Zeitpunkt war geplant, dass er für immer in Sapporo im Norden Japans bleibt. Er kehrte jedoch wieder zu seiner Frau und den Kindern nach Kasachstan zurück.

Ein weiteres Problem ist die Art der Pensionsauszahlung in Japan: das Geld kann nur von ihm persönlich in Sapporo abgeholt werden. Da aber die Reisekosten nicht gedeckt werden, bleibt nur wenig Geld übrig. Aufgrund seines gesundheitlichen Zustandes konnte Tetsurō zum letzten Mal im Jahre 2011 seine Pension bekommen.

Die Forschungsarbeit: Resümee

Tetsurōs Wohnung in Aktas, nahe Karaganda. | Bild: Autorin

Das Forschungsthema „Japanische Kriegsgefangene in Kasachstan nach dem Zweiten Weltkrieg“, entstand eher durch Zufall. Neben meinem Hauptstudium der Japanologie studiere ich auch am Institut für Slawistik und habe Grundkenntnisse der russischen Sprache. Von April bis Ende Juli 2017 hatte ich die Möglichkeit, ein Praktikum bei der Deutschen Allgemeinen Zeitung in Almaty zu absolvieren.

Durch den Aufenthalt in Kasachstan hatte ich die Gelegenheit, als thematischen Schwerpunkt die Beziehung zwischen Kasachstan und Japan zu beschreiben. Bei der Literaturrecherche fand ich einen Artikel über eine Grabstätte für japanische Kriegsgefangene in Karaganda, welcher mein Interesse weckte. In weiterer Folge stellte sich heraus, dass es sich um ein in Europa wenig bekanntes Thema handelt und kaum Informationen verfügbar sind, die speziell auf die Situation in Kasachstan eingehen.

Forschungsmethodik

In Kasachstan verfasste ich einen Aufruf in der DAZ, um Informanten zu finden, und wurde auf die große Anzahl an Gebäuden aufmerksam gemacht, die von japanischen Kriegsgefangenen gebaut worden sind und worüber kaum verschriftlichte Informationen vorliegen.

Überdies kontaktierte ich das japanische Generalkonsulat in Almaty sowie die Botschaft in Astana und stand im Austausch mit dem japanischen Botschafter, Herrn Furubayashi Tarō. Durch ihn lernte ich Frau Prof. Ōnishi Yumi kennen, eine japanische Professorin an der Al-Farabi Universität sowie Mitglied der Japan Foundation. Sie war so freundlich, mir das Werk „Kazafusutan ni okeru nihonjinyokuryūsha” (Japanische Kriegsgefangene in Kasachstan) aus dem Jahr 2008 von Shunsuke Ajikata zu überlassen und mit mir ein Gespräch über den Forschungsstand zu diesem Thema zu führen. Dank ihr erfuhr ich, dass ein Theaterstück über den letzten japanischen Kriegsgefangenen inszeniert und in Almaty über einen längeren Zeitraum gespielt worden war. Im Zuge der Expo-Weltausstellung von Juni bis September 2017 wurde dieses Stück erneut in Astana aufgeführt. Um weitere Literaturquellen zu finden, war ich im Nationalarchiv der Republik Kasachstan und in der Stadtbibliothek Almaty, allerdings ohne relevante Informationen zu finden. Leider spreche ich kein Kasachisch. Daher kann es sein, dass ich nicht alle Informationen gefunden habe.

Schließlich begann ich aufgrund der kargen Datenlage, unterschiedliche Orte mit Bezug zu japanischen Kriegsgefangenen aufzusuchen. Beim Besuch der bekanntesten Plätze mit Japanbezug, wurde ich oft durch Einheimische auf die Gebäude aufmerksam gemacht, welche von japanischen Kriegsgefangenen errichtet worden sind; das Bewusstsein in der Bevölkerung ist also auf jeden Fall vorhanden. Unterstützt wurde ich dabei von Termirlan Imangalijew (25, Student und freiberuflicher Fremdenführer).

Forschungsstand

Das wichtigste Werk über kriegsgefangene Japaner in der Sowjetunion ist eine Dissertation von Richard Dähler: Die japanischen und die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion 1945-1956 (2006). Sie behandelt die Schicksale dieser beiden Gruppen von Kriegsgefangenen in Sibirien. Des Weiteren schrieb Dähler bereits 2001 eine Arbeit über Zeichnungen, welche von japanischen Kriegsgefangenen während ihrer Gefangenschaft angefertigt wurden.

Ein weiteres wichtiges Werk speziell über japanische Kriegsgefangene in Kasachstan sind einerseits die Sonderausgabe der Asian Pacific Studies mit dem Schwerpunktthema „Tokushu: Shiberia yokuryū no jittaika e – motomerareru kokusai kōryū kanmin doryoku“ (Sonderausgabe: Die Lage der sibirischen Kriegsgefangenen – die Forderung nach Bemühungen seitens der Regierung für internationalen Austausch). Das Werk ist ein Sammelband kurzer wissenschaftlicher Arbeiten und enthält auch einen Bericht über den letzten japanischen Kriegsgefangenen in Kasachstan, Ahiko Tetsurō. Es werden unter anderem in einem der Artikel die hygienischen Umstände in den Lagern näher beleuchtet und in einem anderen einige Gebäude vorgestellt, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Japanern in Kasachstan gebaut worden sind. Leider sind die Artikel nicht sehr umfangreich und eher oberflächlich gehalten.

Weitaus mehr Informationen bietet das Booklet von Ajikata, welches auf verschiedene Themen eingeht: die historische Entwicklung bis hin zur Kriegsgefangenschaft der japanischen Soldaten, wichtige Details zu den Friedensverträgen und zu den von den Gefangenen errichteten Gebäuden. Es ist bei weitem das umfangreichste Werk über dieses Thema und wird vor allem bei der Beschreibung der Hinterlassenschaften von Kriegsgefangenen meine wichtigste Quelle sein. Leider wird jedoch weder auf einzelne Erlebnisberichte eingegangen noch betont, dass es offensichtliche Lücken gibt (wie bei der Aufzählung von Bauten, die von Japanern errichtet worden sind).

Eine besondere Stellung in meiner Arbeit nimmt die umfassende Rekonstruktion des Lebens von Ahiko Tetsurō ein. Mir ist dieser Part ein persönliches Anliegen, da es dazu keine Artikel gibt, die alle vorhandenen Quellen mit einbeziehen. Die publizierten Daten über Ahiko Tetsurō stammen entweder aus einzelnen Interviews, oder es handelt sich nur um ungenau beschriebene Lebensläufe. Einige seiner Interviews wurden veröffentlicht, unter anderem von der FNN-News im September 2011, in der oben genannten Zeitschrift der Asian Pacific Studies, im Blogartikel „Expedition KARLAG: I scavenged to survive“ von Mikael Strandberg auf LinkedIn 2016, in „Kazafusutan: Nihonjinyokuryūsha ga nokoshita mono“ (Kasachstan: Was die japanischen Kriegsgefangenen hinterlassen haben), 2014 auf dem Blog „Chikyū no arukikata“ im Artikel „Tagebucheintrag, 7. November: Über Herrn Ahiko Testurō in Karaganda“ und im Artikel „The last Japanese man remaining in Kazakhstan: A Kafkian tale of the plight of a Japanese POW in the Soviet Union“, des Japan Subculture Research Centers (2011).

Unterstützt wurde die Autorin bei den russischen und kasachischen Gesprächsteilen im Interview von ihrer Dolmetscherin, Zhaniya Umbetova.

Clara Momoko Geber

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