Maria Gliem aus Frauenwaldau, dem heutigen Bukowice, hat einen Teil ihrer Kindheit als Vertriebene verbracht. Ihre Flucht führte sie nach Hessen, wo vor 70 Jahren die ersten Heimatvertriebenen ankamen. In ihrer heutigen Heimat trägt Gliem dazu bei, dass ihre Erinnerungen an die Zeit in Polen und die Flucht nicht in Vergessenheit geraten. Aus diesem Grund hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben. Die DAZ veröffentlicht mit ihrer Erlaubnis Auszüge aus der Niederschrift.

In Reichenberg gingen Tante Agnes und ich los, für Mutter und die Kleinen etwas zu essen und zu trinken zu besorgen, aber es gab nichts. Wir wurden in einer Schule untergebracht. Gegen 6.00 Uhr wurde uns wieder mal gesagt, alles zusammenpacken, es geht weiter. Wir nahmen an, es geht wieder zurück, aber in dieser Nacht verloren wir alle Hoffnung auf eine baldige Heimkehr.

Um 10.00 Uhr gab es halbrohe Kartoffelsuppe ohne Salz. Wir sollten noch unsere Lebensmittelkarten abgeben, um Brot zu bekommen. Da es doch nichts Essbares gab, behielten wir einfach unsere Karten, und das war gut so. Tante Agnes und ich gingen weit in die Stadt, am Bahnhof waren alle Geschäfte schon geplündert. Doch wir bekamen Brot auf Marken. Um 13 Uhr kamen wir völlig kaputt zurück, und gleich darauf fuhr der Zug ab. Das war immer unsere Sorge: Wir kommen zurück, und der Zug ist weg. Der Zug fuhr und keiner wusste wohin, aber in 17 Stunden sollten wir am Ziel sein. Am nächsten Morgen bekam jeder anderthalb Schnitten Brot und ein Becher Wasser. Unser Abteil hatte 30 Sitzplätze, wir waren aber 49 Personen darin. Der Zug fuhr immer nur kurze Strecken, entweder waren die Schienen beschädigt oder wir wurden von Tieffliegern beschossen. Wir hatten sehr viel Glück und wurden nicht getroffen, der Herrgott hat uns beschützt. Zwischen Dux und Brüx waren die Felder total mit Stanniolpapier übersät. Vor einem Angriff konnte unser Zug gerade noch in einen Tunnel fahren, aber die letzten zwei Wagen wurden beschossen, und die Wagen sind ausgebrannt, alle Menschen sind verbrannt. Sechs mal wurden wir in diesem Zug angegriffen. Hansel konnte kaum noch gestillt werden, da wir nichts zu trinken hatten. Das Geschrei der Kinder war fürchterlich und die Mütter hatten nichts zu essen oder zu trinken für sie. Ein alter Mann ging nachts heimlich Wasser holen, obwohl es verboten war, den Zug zu verlassen. Eine Frau gab uns zwei Kerzen, die stellten wir auf den Fußboden, und so konnten wir etwas Tee kochen. Eine andere gab uns zwei Zwiebäcke, und so bekam Hansel endlich mal wieder eine Flasche zu trinken. Alois, der kleine Kerl, musste zusehen. Am 16.02.45, nach 70 Stunden in dem überfüllten Zug, durften wir in Merkelsgrün (Merklin) im Sudetenland endlich aussteigen. Unsere ersten Gedanken waren: Bis hierher schaffen es Tante Anna und Onkel Bernhardt mit dem Pferdewagen niemals.

In Merkelsgrün (Merklin) bekamen wir erst mal ein warmes Mittagsessen und vor allem etwas zu trinken. Zuvor haben wir uns erst mal gründlich waschen müssen, wir waren furchtbar verdreckt und schwarz wie die Neger. Es gab Suppe, Brot, Kaffee und auch gleich Abendbrot. Wir hatten es seit Tagen wieder warm, waren satt und total erschöpft, aber auch froh. Die erste Nacht schliefen wir in der Schule. Diese Stille war so unwirklich, keine Schreie, keine Schüsse, keine Flieger und keine Militärfahrzeuge. Anderntags wurde uns klar, warum es hier so still war. Merkelsgrün war für uns wahrhaftig ein böhmisches Dorf. Es waren 56 Häuser in einem kleinen Tal zwischen hohen Bergen. Frauenwaldau lag im Flachland und hier sahen wir zum ersten Mal richtige Berge. Das Dorf war nur durch eine enge Schlucht, durch die ein reißender Bach, eine eingleisige Bahnschiene und eine Strasse führten, zu erreichen. Die Bahn endete hier, die Strasse ging hinter dem Dorf über einen hohen Berg weiter. Wir sahen sofort, Tiefflieger können uns hier nichts mehr anhaben.

Tags darauf bekamen wir eine Unterkunft, das war vorher die „Hilfsstelle für Mutter und Kind“. Auf der Fahrt ging es unserem Opa sehr schlecht, er lag anschließend lange Zeit im Bett. Auch Alois wurde krank, obwohl er jederzeit schlafen konnte, wir hatten ja zwei Kinderwagen mit. Am 18.02.45 suchten wir erst mal nach der Kirche. Es waren 3 km zu Fuß bis in die Stadt Liechtenstein. Als wir in der Kirche saßen, fühlten wir uns fast wieder gut. Susi wurde am 19.02.45 acht Jahre alt, aber ihr Geburtstag war noch trostloser als bei Josef, obwohl hier gut für uns gesorgt wurde. Nachdem wir wieder eine Bleibe hatten, merkten wir, das uns einfach alles fehlt.

Maria Gliem

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