Niels Annen (SPD) ist Mitglied des Deutschen Bundestages und seit März 2018 Staatsminister beim Bundesminister des Auswärtigen. Mitte September reiste er nach Kasachstan und Usbekistan. Wir haben ihn in Almaty zum Interview getroffen und über die Rolle Zentralasiens in der deutschen Außenpolitik und den chinesischen Einfluss in der Region, aber auch über die aktuellen Ereignisse in Deutschland gesprochen.
Herr Annen, was führt Sie nach Zentralasien?
Zuerst einmal: Ich freue mich, dass ich hier sein kann. Ich bereise Kasachstan und Usbekistan zum ersten Mal. Die Region ist politisch und wirtschaftlich sehr wichtig für uns. In Brüssel wird im Moment die Zentralasienstrategie der Europäischen Union überarbeitet, die 2007 während der deutschen Ratspräsidentschaft ausgearbeitet wurde. Deutschland ist ein aktiver Partner für die Region und will sich hier noch stärker engagieren. Wir schauen daher sehr genau auf Zentralasien.
Zudem wendet sich US-Präsident Donald Trump immer mehr von seinen traditionellen Verbündeten ab, während gleichzeitig das deutsch-russische Verhältnis durch die Annexion der Krim und die Lage in der Ostukraine angespannt ist. Zudem ist Europa momentan mit sich selbst beschäftigt. Gleichwohl müssen wir uns auch mit Blick auf China stärker mit Zentralasien befassen.
Welche Schwerpunkte sollten aus deutscher Sicht bei der Zentralasienstrategie gesetzt werden?
Die EU arbeitet gerade intensiv an einer Strategie zur Förderung der Konnektivität zwischen Europa und Asien. Dabei spielt Zentralasien eine wichtige Rolle. Zentrale Ziele müssen dabei eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung sowie die Förderung von Sicherheit und Stabilität sein. Außerdem möchten wir verstärkt die junge Bevölkerung vor Ort unterstützen und gezielt Arbeits- und Studienmöglichkeiten fördern.
Aktuell sehen wir Entspannungssignale und eine stärkere regionale Kooperation. Ein Beispiel ist der Internationale Fonds zur Rettung des Aralsees. Es ist die einzige regionale Institution, in der alle fünf zentralasiatischen Länder Mitglied sind. Gleichzeitig ist es die einzige regionale Organisation, die dem Wassermanagement gewidmet ist. 2008 begann der sogenannte Berlin-Prozess, dessen Ziel es ist, dass die Länder am Ober- und Unterlauf der Flüsse Syr Darya und Amu Darya gemeinsame Ansätze zum Wassermanagement entwickeln. Schon damals war unser Motto „Wasser vereint“. Beim Thema Wassermanagement trägt die Deutsch-Kasachische Universität in Almaty bereits seit vielen Jahren erfolgreich zur regionalen Kompetenzbildung bei.
Wird China als Wettbewerber in der Region betrachtet?
Wir sehen durchaus, dass China mit seiner „Belt and Road Initiative“ in der Region Chancen schafft und die Infrastruktur ausbaut. Wir sind bereit zur Kooperation mit China. Aber es ist auch klar, dass nicht jedes Projekt der Seidenstraßen-Initiative wirtschaftlich begründet ist. In Sri Lanka hat China zum Beispiel den größten Hafen des Landes mit nicht finanzierbaren Kreditbedingungen gebaut. Nun gehört der Hafen für die nächsten 99 Jahre China, dafür bekommt das Land einen Teil seiner Schulden erlassen. Viele kritisieren dies als ein koloniales Instrument.
Wir wollen eine Partnerschaft auf Augenhöhe und keine einseitige Abhängigkeit oder übermäßige Verschuldung für Zentralasien schaffen. Die EU muss sich als Gemeinschaft für faire und transparente Verhandlungen einsetzen. Für uns sind die ökonomische Tragfähigkeit der Investitionen sowie die Einhaltung von Sozial-, Umwelt-, Sicherheits- und Menschenrechtsstandards wichtig. Hierin unterscheiden wir uns klar von der chinesischen „Belt and Road Initiative“.
Bisher ist Kasachstan wirtschaftlich wie politisch der Hauptpartner für Deutschland in der Region. In Usbekistan hat eine vorsichtige Öffnung begonnen. Ändert sich nun die Rollenverteilung?
Kasachstan wird unser zentraler Ansprechpartner bleiben. Dafür sind unsere historischen und kulturellen Beziehungen zu eng. Wirtschaftlich ist Kasachstan der wichtigste Handelspartner in Zentralasien. Es gibt diverse Formate deutsch-kasachischer Zusammenarbeit. Allerdings gibt es auch Punkte, die uns sorgenvoll stimmen. So zum Beispiel die Situation der Menschen- und Bürgerrechte im Land. Diese Punkte sprechen wir bei unseren kasachischen Partnern auch an.
Die Agenda des neuen usbekischen Präsidenten eröffnet jedoch Chancen für das Land. Die Beziehungen zu den Nachbarstaaten wurden verbessert. In sehr kurzer Zeit ist Usbekistan zu einer treibenden Kraft der regionalen Kooperation geworden. Die tiefgreifenden Reformen zur Liberalisierung und Modernisierung der usbekischen Wirtschaft stärken die Marktkräfte, fördern die Privatwirtschaft und machen Usbekistan für ausländische Investoren, auch deutsche, deutlich attraktiver.
Spätestens seit den Ereignissen in Chemnitz wird Deutschland von vielen Seiten ein Rassismus-Problem bescheinigt, unter dem Hashtag #Metwo berichten Menschen mit Migrationshintergrund schon länger in den sozialen Medien über Diskriminierung im Alltag. War Deutschland zu lange auf dem rechten Auge blind?
Ich betrachte die Ereignisse nicht nur von Chemnitz, sondern auch in anderen Städten mit großer Sorge. Allerdings können wir gerade in Sachsen beobachten, dass es dort eine verfestigte rechtsextreme Szene gibt, gegen die die dortige Landesregierung zu lange nichts gemacht hat. Relativierungen, wie die von Ministerpräsident Kretschmer, ob es nun eine Hetzjagd gab oder nicht, helfen uns hier nicht weiter. Ein Rechtsstaat braucht eine klare, erkennbare Linie.
Es ist Realität, dass die Gesellschaft in Deutschland divers zusammengesetzt ist. In meiner Heimatstadt Hamburg haben 50 Prozent der Einwohner einen Migrationshintergrund. Deutschland hat von Zuwanderung bisher profitiert, aber sie macht manchen Bürgerinnen und Bürgern auch Angst. Sie haben einen Anspruch darauf, dass sie gehört und ihre Sorgen ernst genommen werden. Wer jedoch bei Demonstrationen mitläuft, die von Rechtsextremen organisiert werden, verwirkt diesen Anspruch.
Der deutsche Innenminister Horst Seehofer sagt, Migration sei die „Mutter aller Probleme“. Allen Kontroversen zum Trotz zeigt der Satz zumindest, dass die Kanzlerin keine Mehrheit mehr für ihre Asyl- und Flüchtlingspolitik hat – und der Ton in der Debatte schärfer geworden ist. Woran liegt das?
Ich würde Ihnen hier vehement widersprechen: Für die meisten Deutschen hat die Flüchtlingspolitik keine Priorität. Wenn man sich die Umfragen anschaut, wird klar, dass soziale Themen viel wichtiger sind. Da geht es um die Zukunft der Rente und der Pflege, die Angst vor Altersarmut sowie um explodierende Mieten.
Kontroverse Debatten sind gut in der Politik und gehören dazu. Der Innenminister sollte sich aber um die drängenden Fragen in seinem Ressort kümmern, anstatt den Streit in der Union immer wieder zu befeuern.
Tut der Staat genug dafür, dass die Integration der Flüchtlinge gelingen kann?
Ja, im Großen und Ganzen schon. Aber man muss auch ganz klar sagen, dass es Probleme gibt und die Integration nicht überall gut geklappt hat. Städte und Gemeinden dürften bei der Integration der Flüchtlinge nicht überfordert werden.
Seit der vergangenen Bundestagswahl wird Spätaussiedlern, insbesondere den Russlanddeutschen, eine Nähe zur AfD unterstellt. Nun bemüht sich auch die SPD stärker um ihre Gunst – laut Welt ist sogar zweisprachiges Werbematerial auf Deutsch und Russisch für kommende Wahlen im Gespräch. Haben die Sozialdemokraten diese Wählergruppe bisher zu stark vernachlässigt?
Die AfD hat sich gezielt an Russlanddeutsche gewandt. Die traditionelle Bindung an die Union hat inzwischen stark nachgelassen. Trotzdem lag das Wahlergebnis der AfD bei Russlanddeutschen nicht wesentlich höher als auf Bundesebene. Deutlich mehr Russlanddeutsche haben die Partei „Die Linke“ als die AfD gewählt. Hier wurde also ein Zerrbild produziert, welches keinesfalls dazu führen darf, dass es ein Grundmisstrauen gegenüber Russlanddeutschen gibt. Sie sind deutsche Staatsbürger, deren Integration fast ausnahmslos gut gelungen ist. Russlanddeutsche sind dennoch eine Gruppe mit einer bestimmten Identität und als solche muss man sie wahrnehmen. Dass meine Partei versucht, diese Gruppe gezielt anzusprechen, finde ich richtig.
Europa muss gerade lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Das betrifft insbesondere die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dabei ist die EU so gespalten wie nie. Wie sieht die Zukunft Europas aus?
Wir haben Europa zu lange als Selbstverständlichkeit gesehen. Die Politik Donald Trumps ist in dieser Hinsicht ein Weckruf, dass wir uns wieder mehr um die EU kümmern müssen. Frieden und Wohlstand in Europa kommen nicht von alleine. In Polen, Ungarn und Italien sind Nationalisten und Populisten an der Macht. Nationale Alleingänge helfen aber niemandem. Wir brauchen eine neue Dynamik für die Zusammenarbeit in Europa. Außenminister Heiko Maas hat es auf den Punkt gebracht: unsere Antwort auf „America first“ muss „Europe United“ heißen.
Und im Bereich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gibt es neue Projekte. In der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit haben sich nun diejenigen EU-Staaten zusammengeschlossen, die sich besonders engagieren und militärisch enger zusammenarbeiten wollen. Wir müssen aber noch weitergehen. Was wir brauchen, ist eine gemeinsame europäische Außenpolitik. Auch hierbei kommen wir voran!
Im UN-Sicherheitsrat wurde vor kurzem davor gewarnt, dass die Terrorismusgefahr aus Afghanistan für Zentralasien steige. Der afghanische Staat kämpft seit mehr als 16 Jahren gegen die Taliban, die Bundeswehr ist noch immer vor Ort. Sehen Sie mittelfristig eine Lösung für den Konflikt?
Ja. Die Verhandlungen und diplomatischen Prozesse sind in vollem Gange. Es gibt politische Fortschritte. Im Juni gab es zum ersten Mal eine landesweite Waffenruhe. Die USA sprechen direkt mit den Taliban über einen möglichen Friedensprozess. Wir stehen kurz vor einer Präsidentschaftswahl in Afghanistan. Das ist eine wichtige Phase. Der Verhandlungsweg muss weitergegangen werden. Nur eine politische Lösung wird Frieden für das geschundene Land bringen.
Während mit den Taliban Gespräche geführt werden müssen, müssen die Aufständischen des sogenannten „Islamischen Staats“ weiterhin bekämpft werden. In Afghanistan schwelt ein internationaler Konflikt, der einen regionalen Lösungsansatz benötigt. Deshalb müssen sich die zentralasiatischen Staaten noch stärker in die Lösung einbringen.