Die Protagonistin unseres Interviews ist wohl allen Kasachstan- und Russlanddeutschen bekannt. Olga Martens, Mädchenname Wiediger, leitete in den 1990er Jahren die regionale Gesellschaft „Wiedergeburt“ in Kokchetaw und den Bund der Deutschen Jugend Kasachstans. In den 2000er Jahren war Olga Martens lange Zeit die erste stellvertretende Vorsitzende der Internationalen Union der Deutschen Kultur.

35 Jahre sind vergangen, seit die Allunionsgesellschaft der Deutschen „Wiedergeburt“ gegründet wurde. Olga, wie können Sie sich an diese Zeit erinnern? Es war 1989, ein schwieriges Jahr – der Vorbote einer neuen Ära: Perestroika-Umwandlungen und -Prozesse, Gorbatschows Glasnost-Politik, der Fall der Berliner Mauer…

Es fällt mir schwer zu sagen, wie es 1989 dazu kam. Damals war ich noch nicht aktiv bei der „Wiedergeburt“. Mein Weg in die Öffentlichkeit begann 1987 über das Deutsche Schauspielhaus in Temirtau – durch die Teilnahme an deutschen Kulturtagen und Festivals, dank meiner Institutslehrer Valentin Maier und Wendelin Mangold. Und ich werde nicht müde zu wiederholen, dass es die deutsche Theatertruppe und ihre Inszenierungen über das Schicksal der Russlanddeutschen waren, die mich 1992 in die regionale Gesellschaft „Wiedergeburt“ in Kokchetaw führten.

Als Lehrerin in Deutschkursen und als zusätzliche Hilfe für deutsche Familien bei der Vorbereitung von Dokumenten für die Ausreise nach Deutschland stieß ich auf eine große Anzahl von Familiengeschichten. Zu dieser Zeit „sprach“ auch mein Großvater, der Arbeitssoldat in Workuta gewesen war. Ehrlich gesagt hatte ich bis 1994, als mir die Leitung der Gesellschaft bei Abreise nach Deutschland die Schlüssel zum Tresor mit den Gründungsdokumenten und dem Siegel der Gesellschaft übergab und mich aufforderte, die von mir begonnene Arbeit fortzusetzen, keine Ahnung, welche aktive Arbeit zur Wiederherstellung der Rechte unseres unterdrückten Volkes geleistet wurde.

Als jüngste Vorsitzende der deutschen Gesellschaft in Kasachstan und, wie es scheint, zu diesem Zeitpunkt die einzige Frau an der Spitze, wurde ich von allen Seiten von unseren Koryphäen der öffentlichen Bewegung geschützt und unterstützt. Ich bin Alexander Dederer, dem damaligen Vorsitzenden der republikanischen „Wiedergeburt“, für sein Vertrauen und seine Betreuung sehr dankbar, ebenso meinen Leitern in Kokchetaw, Alfred Boos und Maria Rose, die Radiosendungen in deutscher Sprache für die Deutschen der Region ausstrahlten.

Was erwarteten die Menschen von den Veränderungen, die unaufhaltsam an ihre Türen klopften?

Als junges Mädchen hatte ich keine Ängste und freute mich über die Möglichkeiten, die sich uns eröffneten: die Teilnahme an zahlreichen Festen deutscher Kultur, Begegnungen mit russlanddeutschen Schriftstellern, die Möglichkeit, Predigten auf Deutsch zu hören und im Kirchenchor zu singen, den ich als Kind nur in einem sehr kleinen Kreis gesehen und gehört hatte. Schließlich wurde ich trotz meines deutschen Nachnamens in die studentische Interbrigade aufgenommen und konnte die DDR kurz vor dem Fall der Berliner Mauer sehen.

Gleichzeitig wartete ein großer Teil unserer Bevölkerung – Zeugen der Deportation, der Arbeitsarmee und der Sondersiedlungen mit all ihren tragischen Folgen – darauf, dass die Gerechtigkeit wiederhergestellt würde, dass alle unbegründeten Anschuldigungen gegen die Sowjetdeutschen fallengelassen würden. Viele von ihnen wollten in ihre Regionen zurückkehren, aus denen sie 1941 deportiert worden waren. Diese Erwartungen sollten sich nicht erfüllen, und es begann ein Massenexodus von Deutschen aus allen Republiken.

Meine Familie war ein deutliches Beispiel dafür: Ich erinnere mich, wie mein Großvater nach der Teilnahme an der regionalen Konferenz „Wiedergeburt“ in Kokchetaw begeistert einen Koffer packte und 1992 mit seinen Verwandten die Wolga-Region erkundete. Er glaubte den Behörden; glaubte, dass die Anklagen fallen gelassen würden, freute sich über die Bescheinigung der Rehabilitierung und wollte nicht nach Deutschland auswandern, sondern nach Hause in seine Siedlung bei Marx zurückkehren. Er kehrte ängstlich und frustriert zurück und zwang mich, die Ausreisepapiere für unsere gesamte Großfamilie zu erstellen. „Dort wartet niemand auf uns“, lautete sein bitteres Urteil.

Was waren aus Ihrer Sicht die Hauptprobleme der Sowjetdeutschen?

Ich denke, dass dies in vielen Studien über die Sowjetzeit von der Vereinigung der Forscher der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen beschrieben wird. Es sind viele Bücher zu diesem Thema erschienen: über die Repressionen auf nationaler Basis, darüber, dass die Deutschen lange Zeit nicht in die Orte zurückkehren durften, aus denen sie deportiert worden waren, darüber, wie sich das Fehlen von kompakten Siedlungen und die Beschränkung der höheren Bildung verheerend auf unser Volk auswirkten.

Und die Nationalität „Deutsch“ war in den Köpfen der Menschen lange Zeit ein Stigma, vor allem in den Nachkriegsjahren. Ich habe das alles während meiner Schulzeit am eigenen Leib erfahren, und das war bereits in den 80er Jahren. Ich kann mir vorstellen, was in der Zeit davor passiert ist, vor allem im europäischen Teil der UdSSR.

Generell kann ich allen Russlanddeutschen, unabhängig davon, wo sie heute leben, nur wünschen, dass sie mehr Literatur über das Schicksal unserer Familien und unseres Volkes lesen.

Welchen Einfluss hat die Organisation auf die Gesellschaft im Allgemeinen und auf die im postsowjetischen Raum lebenden ethnischen Deutschen im Besonderen gehabt?

Wir wurden schließlich offiziell als Teil der Zivilgesellschaft in Kasachstan anerkannt, mit unserem Hauptsitz in Almaty. Für mich war zum Beispiel das Mandat in der Volksversammlung Kasachstans wichtig, das 1994 erteilt wurde. Unsere Vertreter begannen, in die offiziellen Delegationen der bilateralen kasachisch-deutschen Kontakte aufgenommen zu werden. Eine breite Informations- und Sensibilisierungsarbeit mit der Bevölkerung wurde strukturiert durchgeführt. In regionalen Zentren wurden Deutschkurse durchgeführt, Sonntagsschulen für Kinder eingerichtet, kreative Kollektive entwickelt. Zahlreiche Experten kamen über unsere Organisationen zu uns, um uns bei der Entwicklung des Unternehmertums zu helfen. Es war eine sehr erbauliche und emotionale Zeit der Wiederbelebung!

Als Leiterin der deutschen Gesellschaft in der Region Kokchetaw habe ich die Jugendarbeit aktiv entwickelt, und im Sommer 1996 fand das erste Jugendprojekt statt, an dem Delegationen aller Jugendclubs Kasachstans und Referenten aus Deutschland teilnahmen, und es bot sich die Gelegenheit, Kontakte auf europäischer Ebene zu knüpfen. All dies trug natürlich Früchte, und Jahre später sehen wir eine starke Selbstorganisation der Deutschen in Kasachstan, obwohl eine große Zahl unserer Familien nach Deutschland gegangen ist.

Ich habe übrigens nie einen Hehl daraus gemacht, dass wir die Familien, die sich für die Ausreise nach Deutschland entschieden haben, weiterhin unterstützt haben. Viele Familien hatten damals enorme Schwierigkeiten, Visa und Reisetickets zu bekommen. Oft wurden die Menschen einfach „abgezockt“, und die von der deutschen Bundesregierung für die Ausreise unserer Familien zur Verfügung gestellten Mittel wurden über lokale Firmen als Dienstleistung verkauft, wodurch eine künstliche Verknappung der Tickets entstand.

Ich erzählte einer Journalistendelegation aus Deutschland davon, der Artikel wurde veröffentlicht, und nun wurde ich zu einem Gespräch in Almaty mit dem Leiter von „Olympia-Reisen“ eingeladen. Wie das Gespräch selbst verlief, ist eine ganz andere Geschichte, aber am Ende haben wir es geschafft, die Situation mit der Ausstellung von Ausreisetickets zu verbessern. Mit dieser Geschichte wollte ich nur zeigen, dass die Deutschen in Kasachstan ihre eigenen „Anwälte“ in der Person von Leitern und Aktivisten deutscher Gesellschaften haben.

Welche Probleme der ethnisch-kulturellen Entwicklung und Identität der Deutschen in unserer Zeit gibt es?

Es gibt viele davon – darunter die Vektoren der staatlichen Politik. Mit dem Weggang einer großen Zahl unserer Landsleute, unter denen viele kreative Intellektuelle waren, befanden wir uns in einem gewissen kulturellen Vakuum: Unsere kulturellen Führer, zu denen wir aufschauten, waren in Deutschland, während eine neue Generation von Schriftstellern, Künstlern, Musikern, Wissenschaftlern, Forschern unserer Geschichte, Lehrern, sozialen und politischen Persönlichkeiten, schließlich aus den Reihen der Russlanddeutschen, noch nicht entstanden war. Deshalb waren die Partnerschaftsabkommen mit den Organisationen unserer Spätaussiedler in Deutschland sehr wichtig, denn sie ermöglichten uns eine enge Zusammenarbeit und versorgten uns mit den notwendigen Kontakten zu unserer in Deutschland lebenden kreativen Elite.

Trotz der enormen Anstrengungen der öffentlichen Selbstorganisationen der Russlanddeutschen geht der Verlust der ursprünglichen ethnokulturellen Schicht weiter: Die Transformation der Erinnerungskultur ist im Gange, das Verhältnis der ethnokonsolidierenden Merkmale verändert sich, wir sind aktiv in den virtuellen Raum gegangen, und das hat bei allen positiven Aspekten der Bewahrung des ethnokulturellen Erbes, zum Beispiel im musealen Raum, eine sehr widersprüchliche Wirkung auf die Entwicklung der ethnischen Kultur.

Wir sehen sehr technische, dynamische, professionelle Videos in den sozialen Netzwerken, aber wir können viele Dinge nicht mehr mit unseren Händen „anfassen“, sie sind illusorisch und nicht emotional. Und jedes Mal stellt man sich die Frage: „Wie viele von uns in unserer Gemeinschaft sind noch Träger unserer authentischen Ethnokultur und wie viele von uns haben ethnokulturelle Kompetenz?“

Vielen Dank für das interessante Gespräch.

Marina Angaldt. Übersetzung: Annabel Rosin

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