Eine der letzten Ausgaben des Nachrichtenmagazins „Der SPIEGEL”, das es immer erst mit einiger Verspätung nach Astana schafft, fragte danach, wie die Deutschen „ticken”. Die Autoren der ausführlichen Titelgeschichte stellten mit Hilfe unzähliger Umfrageergebnisse die politischen, kulturellen, alltags- oder geschlechterbezogenen Gedanken, Meinungen und Gewohnheiten des und der Durchschnittsdeutschen dar.
Bei der Lektüre schluckte ich wiederholt. Einmal, weil ich mich fragte, ob ich schon nach acht Monaten beginne, eine der Auslandsdeutschen zu werden, die Deutschland nur noch aus dem „SPIEGEL“ kennen. Zum zweiten, weil mehr als sechzig Prozent der befragten Deutschen angaben, eine Frau, die ein Kind bekommen habe, solle besser nicht mehr arbeiten. Fakt eins spräche für eine schnelle Heimkehr, Fakt zwei dafür, diesem wildfremden Land möglichst lange fern zu bleiben.
Der Abstand zu meinem eigenen Land tut mir gut, ich blicke versöhnlich und fast zärtlich auf Deutschland. Nun, es hat mir auch vorher nichts getan. Anders als die Generationen vor mir hatte und habe ich keinen Anlass, den Hass auf mein eigenes Land zu kultivieren – abwechselnd mit Heinrich Heine oder Kurt Tucholsky als Gewährsmänner (- einer, den die Nazis umgebracht hätten und einer, den die Nazis umgebracht haben). Es ist nur die Trotz- und Rotzigkeit der jungen Generation – aber vielleicht bin ich unrepräsentativ –, die mich manchmal ausfällig werden lässt. Ich stelle mir vor, wie die Meinungsforscher, die dem „SPIEGEL“ zuarbeiteten, meine per Zufallsgenerator ermittelte Telefonnummer wählen und mich wie die vielen anderen tausend Probanden fragen: „Sind Sie stolz, Deutsche zu sein?” Wieder müsste ich schlucken, dann würde ich garstig werden: „Dass Sie sich nicht zu blöd sind, solch eine Frage zu stellen.”
Das Wort „stolz” glaubt, ein Synonym für „nicht peinlich” zu sein. „Es macht mir nichts aus.” „Es ist in Ordnung.” „Es gibt Schlimmeres.” – Ich suche noch nach einer möglichst lässigen und sachlichen Antwort, die nicht dazu taugt, in einer Neo-Nazi-Zeitung zitiert zu werden. Mein Stolz auf meinen durch zufällige Zeugung im dünnbesiedelsten Landstrich Sachsens erworbenen dunkelroten Pass beschränkt sich darauf, im Zug Richtung Warschau besser behandelt zu werden als meine ukrainischen oder weißrussischen Mitreisenden. Dieses Gefühl „Stolz” zu nennen, ist im Übrigen kein schlechter Anlass für neu zu kultivierenden Selbsthass. Das einzige, worauf ich in meinem Alter stolz sein kann, ist ein knappes „gut” im Oberstufenmathematikunterricht und ein vorzeigbarer Universitätsabschluss.
Das erste Mal, dass ich tatsächlich Anlass hatte, zu sagen, ich sei Deutsche, war im Polnischunterricht. „Jestem Niemką” steht im Instrumental, dem ersten Fall, den man im Polnischen lernt. Trotz allem kam ich nicht umhin, mich als Teil eines Partnerreferats zur „Nationalen Identität der jungen Deutschen und der jungen Kasachstaner” nach meinem Patriotismus zu befragen. Ich bin stolz darauf, dass meine Eltern mich gelehrt haben „Wissen ist wissen, wo es steht”, und schlug das Wort im Lexikon nach. Da es nur beschreiben kann, kommt nicht einmal ein Lexikonartikel zur „Vaterlandsliebe” ohne Wörter wie „Opferbereitschaft” und „Verehrung” aus. Seit ich das Referat vorbereitet habe, sitze ich in der patriotischen Tinte, und komme nicht aus ihr heraus ohne die klugen Fragen meiner Freundin Bota, die für ihre Generation in Kasachstan sprach: „Und bist Du nicht glücklich über die Demokratie? Die freiheitlichen Grundwerte?” Darauf kann doch jeder Mensch mit halbwegs Verstand kommen. „Und Deine wunderbare Muttersprache und die deutsche Weltliteratur?” Aber hältst Du nicht auch Deine Muttersprache für die schönste der Welt?
Ich bin Deutsche, weil ich gelernt habe, eine zu sein. Nationale Identität, so glaube ich, ist ein Prozess von Wissensaneignung – sie beginnt damit, die eigene Nation, ihre Kultur, ihre Werte, die Verfassung zu kennen, und ihre Geschichte. Für mich ist und bleibt nationale Identität ein intellektueller Gegenstand, keine gefühliger. Freiheit zu verteidigen, wenn nötig, ist eine menschliche Angelegenheit, keine patriotische. Mit meinen Gefühlen wünsche ich, in Ruhe gelassen zu werden – sie sollen nicht durchschaubar angekitscht werden mit Marketing-Kampagnen wie „Du bist Deutschland”.
Ich stelle mir vor: Die Soziologiestudentin am Umfragetelefon unternimmt einen letzten Versuch, sie will mir mit Lebenspraktischem kommen: „Und wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft spielt, für wen Sie dann?” „Herzchen”, seufze ich, „ich wünschte, Fußball würde uns in dieser Sache irgendwie weiterhelfen.”
Maria Reinhardt
23/05/08