Es ist schwer einzusehen, aber wahr. Ich bin tatsächlich in dem Alter, in dem das Lernen nur noch sehr, sehr mühsam vorangeht. Meiner spontanen großen Freude, dass ich mich noch so jugendlich mit großer Neugierde in neue Dinge werfe, folgte schon bald der Frust – da nämlich auf allen Ebenen der Fortschritt ausbleibt.
Ich hatte schon ganz viel Lob dafür eingeheimst, dass ich ja so aktiv sei, Sport treibe, Schach spiele, Akrobatik und Kirchenorgel neu erlerne. Jedoch – da kam Dima, die alte Spaßbremse. Indem er nämlich fragte, wie sich mein Schachspiel entwickele und ob ich Fortschritte mache. Diese Frage hatte ich mir bis dato selbst noch nicht gestellt, aus gutem Grund. Denn die frustrierende Antwort lautet: Nein! Keine Fortschritte! Ich verliere noch immer alle Spiele, die ich beginne – gegen Arne, gegen andere Spieler im Internet, gegen meinen Schachcomputer sowieso und manchmal sogar gegen diejenigen, denen ich das Spiel grad erst beigebracht habe. Aus „So und so ziehen die und die Figuren“ wird dann schon mal schnell ein Schachmatt – gegen mich! Und ich muss meinen Schülern noch umständlich erklären, dass sie mich gerade Schachmatt gesetzt haben! Die Tatsache, dass ich verliere, finde ich dabei, wenn auch nicht erfreulich, aber doch nicht so erschütternd. Dass das aber daran liegt, dass ich intellektuell nicht vom Fleck komme, ist schon schlimm. Kann schon sein, dass ich immer etwas später verliere als anfänglich, dass die Spiele länger dauern und meine Gegner mehr Züge und Denkleistung brauchen, um mich Schachmatt zu setzen. Aber wenn, dann vollzieht sich das unmerklich.
Bei meinen anderen Freizeitaktivitäten ist es nicht anders. Nach dem xten Male Schwimmen bin ich immer noch nach 30 Minuten außer Puste. Nach wochenlangem Trainieren von Klimmzügen schaffe ich immer noch nicht mehr als nur einen halben. Und bei anderen Dingen geht es noch viel schlimmer zu, da sind gar Rückschritte zu sehen. Beim Klavierspielen ächze ich mich holpernd und stolpernd durch Stücke, die ich früher behände lustig-luftig runterspielte. Bei meinem Russisch, das ich eigentlich verbessern wollte, gerate ich mehr und mehr ins Stottern und Straucheln.
Doris meint, man kann in unserem und noch höherem Alter aber doch noch Fortschritte erzielen, man müsse nur sehr viel mehr investieren. Was mich wenig tröstet, denn erstens habe ich nicht mehr so viel Zeit wie früher, zweitens finde ich per sé das Missverhältnis aus ganz viel investieren, um einen klitzekleinen Fortschritt zu erzielen, frustrierend und drittens will ich mich nicht lange an einer Sache aufhalten, sondern vieles kennen lernen. Da kann ich mich nicht lange aufhalten. Wahrscheinlich bin ich mit Mitte 30 genau an der Stelle, wo die Jugend in Form körperlicher und geistiger Fitness aufhört und man sich aus lauter Verzweiflung nur noch in Weisheit und Reife retten kann; indem man sich nämlich souverän damit abfindet, dass das Leben seinen Lauf nimmt, einen Kreislauf darstellt, man im Alter abbaut usw. usw. Wahrscheinlich ist die Stelle kurz vor der Weisheit genau der Moment, der sich nur frustrierend anfühlen kann. Weil man das eine verliert, während man das andere noch nicht gewonnen hat. Aus diesem Dilemma gibt es nur zwei Auswege: Entweder man vergnügt sich mit seinen Freizeitaktivitäten, ohne auf Fortschritte zu hoffen oder man lässt manche Dinge besser bleiben! Ich bin noch unentschlossen …
Julia Siebert
16/05/08