Levi Lempp absolviert aktuell ein Schülerpraktikum in der Redaktion der DAZ. Aus der Sicht eines jungen europäischen Fußballfans schildert er seine Erlebnisse beim Besuch des Almatiner Zentralstadions. Die Begegnung: FC Kairat Almaty gegen Ordabasy Shymkent.

Während wir auf der Abaj-Straße zügig gen Westen schreiten, steigt die Vorfreude: Das bevorstehende Match findet im 1954 erbauten Zentralstadion Almatys statt. Mit einer Kapazität von 23.804 Zuschauern ist es eines der größten Fußballstadien des Landes. Langsam, aber sicher begegnen wir immer mehr schwarz-gelb gekleideten Fans, die ebenfalls in Richtung der Arena pilgern. Die Gefahr, dass wir uns verlaufen, besteht nun nicht mehr.

Der FC Kairat Almaty kann auf eine breite und jahrzehntelang gewachsene Fan-Kultur bauen, was ihn zu einem der erfolgreichsten Clubs des Landes macht. Mittlerweile kann er bereits auf drei gewonnene Meisterschaften und zehn nationale Pokalsiege seit der Gründung der kasachischen Premier Liga vor rund dreißig Jahren zurückblicken. Der wohl größte Erfolg jedoch liegt erst wenige Monate zurück. Trotz schwieriger Ausgangslage gelang es, sich als amtierender kasachischer Meister für die Gruppenphase der UEFA Europa-League 2021/2022 zu qualifizieren. Zwar konnte sich das Team unter Trainer Gurban Berdiyew weder gegen den FC Basel aus der Schweiz noch gegen Qarabag Agdam aus Aserbaidschan Punkte erkämpfen, doch gegen den zyprischen Fußballverein Omonoia Nikosia gelang es, zwei Punkte zu ergattern. Diese Resultate reichten nicht für ein Weiterkommen, doch für die internationale Reputation war die Teilnahme an einem Europapokalwettbewerb Gold wert.

Abstieg und Wiederaufstieg des FC Kairat Almaty

Noch kurz nach der Jahrtausendwende wären solche Szenarien undenkbar gewesen. Einige Jahre zuvor war die erste Mannschaft geteilt worden – ein erzwungener Abstieg in die Zweitklassigkeit für den Klub, der Kasachstan als einziger Verein in der ersten sowjetischen Spielklasse über Jahrzehnte hinweg vertreten hatte, war die Folge. Nach dem erfolgreichen Unterfangen Wiederaufstieg dümpelte der Club im Tabellenmittelfeld herum und schien seinen Kompass verloren zu haben. Doch es gelang, das Ruder herumzureißen und wieder ein Meisterschaftsanwärterteam zu formen, das über fast das komplette letzte Jahrzehnt Platzierungen in der Spitzengruppe erreichen konnte.

Nachdem wir uns Tickets gekauft haben, geht es endlich hinein in die mit rund 5.000 Zuschauern zwar nicht volle, aber doch emotionsgeladene Arena. Die Lage des Stadions macht das einzigartige Flair des Clubs aus. Als das Spiel beginnt, leuchtet die untergehende Sonne die anmutig erscheinenden Bergketten des Tien Shan an, welche hinter der Südtribüne des Stadions emporragen. In Richtung Süden dagegen erstrecken sich die schier unbegrenzten Weiten der kasachischen Steppe. In diesem Moment wirkt es, als sei das Stadion eins mit der charakteristischen Gegensätzlichkeit der Stadt.

Sieg über den Favoriten

Die gegnerische Mannschaft, der Ordabasy FC aus Shymkent, ist sichtlich ambitioniert und fordert die favorisierte Mannschaft aus Almaty gleich zu Beginn heraus: Schon nach wenigen Minuten netzt ein Stürmer des Gasts sehenswert ein. Von nun an muss das dominant, aber fehlerhaft auftretende Almaty also einem Rückstand hinterherlaufen. Angefeuert wird es dabei von enthusiastisch unterstützenden Fans auf Haupt- und Gegentribüne. „Kairat! Kairat! Kairat!“ oder „Goal! Goal! Goal!“ schallt es nahezu durchgängig durch das weite Rund. Als die Anzeigetafel bereits die 44. Minute anzeigt, ist es schließlich so weit: Der mit 170 cm recht kurz gewachsene, aber daher umso wuseligere Brasilianer Joao Paulo sorgt für den verdienten Ausgleich zu einem psychologisch wichtigen Zeitpunkt. Ermutigt durch die Erkenntnis, dass etwas möglich ist gegen einen langsam ausgepowert wirkenden Gegner, rennt das Team von Cheftrainer Kirill Keker nach der Pause immer und immer wieder an. Doch trotz hochkarätiger Chancen gelingt es nicht, den Ball in den Maschen unterzubringen.

Es kommt, wie es kommen muss: Nach etlichen Versuchen, offensiv erfolgreich zu sein, schwindet mit zunehmender Spielzeit die Konzentration im Pass- und Defensivspiel. Ordabasy, nach vorne getrieben von den zahlreichen mitgereisten Unterstützern, die auf der Osttribüne pausenlos für Stimmung sorgen, schöpft neue Hoffnung. Offensivlauf folgt auf Offensivlauf und in der 85. Spielminute geschieht, was man doch unbedingt verhindern wollte. Dank eines strammen Fernschusses von außerhalb des Strafraums gelingt es dem linken Flügelspieler des Gästeteams, seiner Mannschaft zum Sieg über den Favoriten zu verhelfen. Der FC Kairat, demotiviert durch den unglücklichen Spielverlauf, findet in der Folge nicht mehr zurück ins Spiel.

Ausgeprägte Fußballkultur über Europa hinaus

Kurz bevor der Schiedsrichter die Partie abpfeift, kommt es noch zu zwei skurrilen Szenen: Während des laufenden Spiels betritt ein Fan das Spielfeld, schnappt sich die Kugel im Mittelkreis und bringt den Ball im Tor unter, noch bevor die Ordner überhaupt reagieren können. Tosender Jubel brandet auf.

Die zweite Situation ereignet sich wenige Sekunden vor Abpfiff. Gerade will Ordabasys Mittelstürmer einen Freistoß ausführen, als plötzlich die Bewässerungsanlage anspringt. Die Fans springen auf, filmen die außergewöhnliche Szenerie, bis die Verantwortlichen nach ein paar Sekunden in der Lage sind, die Ausführung des Freistoßes zu ermöglichen.

Der treue Anhang, die bewegte Geschichte sowie das beeindruckende Stadion des FC Kairat Almaty reißen mich heraus aus der Vorstellung, Fußball sei noch immer eine west- oder südeuropäische und südamerikanische Sportart ohne nennenswerte Ausprägungen über diese Regionen hinaus. Trotz der Niederlage hat der traditionsreichste Fußballclub des Landes mit mir einen überzeugten Unterstützer gewonnen.

Levi Lempp

Teilen mit: