Im Gespräch mit Dagmar Schreiber

Das Thema Nachhaltigkeit dominiert den öffentlichen Diskurs. Das zeigt sich aktuell in Glasgow, wo die Weltklimakonferenz der Vereinten Nationen stattfindet. Die Erwartungen an die Regierungen sind hoch, die Mahnungen laut. Von der „eigenen Auslöschung“ und dem „Schrei der Erde“ ist die Rede, sollte es nicht gelingen, sich auf effektive Maßnahmen gegen die Erderwärmung zu verständigen.

Auch in Kasachstan ist das Thema hochaktuell. Die kasachische Regierung arbeitet im Rahmen einer Langfriststrategie daran, bis 2060 klimaneutral zu werden. Zudem gibt es Engagement auf der zivilgesellschaftlichen Ebene, um den vielfältigen Umweltproblemen von Plastemüll bis Luftverschmutzung Einhalt zu gebieten. Nachhaltigkeit wird aber nicht nur mit Ökologie in Verbindung gebracht, sondern auch mit der Gesellschaft und der Rolle des Menschen in ihr.

Rezepte gegen die Entfremdung von unseren Wurzeln

Das Goethe-Institut Kasachstan hat in diesem Jahr mit der Deutsch-Kasachischen Universität (DKU) eine Reihe gemeinsamer Veranstaltungen unter dem Motto „tomorrow was too late“ gestartet. Dabei geht es um verschiedene Aspekte ebenjener Themen: Nachhaltigkeit und Umwelt. Ende Oktober fand das zweite dieser Treffen unter dem Thema „Fortschritt und Entfremdung“ statt. „Was ist Fortschritt?“, „Macht er uns glücklich?“, „Was können wir gegen die Entfremdung von unseren Wurzeln tun?“ – so lauteten einige der Fragen, über die sich die Teilnehmer während des dreistündigen Gesprächs austauschten.
Die Moderation übernahm Dagmar Schreiber, unter Zentralasienfreunden bestens bekannt nicht nur für ihre Reiseführer und -berichte über die Region und ihre Länder. Auch ihre Internetplattform KasachstanReisen bietet ein ganzes Paket an touristischen Angeboten, wobei die Touren vor allem „umweltverträglich“ und „lebensnah“ sein sollen.

Über Schreibers Kasachstan-Reiseführer sagte Herold Belger im Jahr 2014: „Dagmar Schreiber, die viele Jahre in Kasachstan verbracht hat, hat das Buch ‚Kasachstan‘ mit großer Liebe, Freundlichkeit und einem wirklich offenen Herzen geschrieben.“

Im Kontext ihres jüngsten Kasachstan-Aufenthalts hat Dagmar Schreiber auch der DAZ einige Fragen beantwortet. Die Autorin und studierte Philosophin sprach dabei über Natur und Kultur, Gesellschaft und Gemeinschaft sowie über ökologische Fortschritte und Herausforderungen in Kasachstan.

Wie definieren Sie für sich das Thema „Fortschritt und Entfremdung“?

All das, was wir Fortschritt nennen, ist sehr ambivalent. Fort-Schritt ist ein Fort-Schreiten von unseren menschlichen Wurzeln, sogar ein Fort-Rennen. Unsere Wurzeln liegen einerseits in der Natur, andererseits in der Kultur, welche die Menschen seit Jahrtausenden geschaffen haben in der Gemeinschaft mit anderen Menschen. Aus der Natur kommen wir, sie gibt uns alle physischen Lebensgrundlagen – aber ohne Kultur und Gemeinschaft wären wir keine Menschen.

Im Zuge der Arbeitsteilung haben sich die Menschen immer mehr auf Tätigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse spezialisiert, die jeweils nur ein ganz kleines Segment des großen Ganzen darstellen. Die Gesellschaft ist ein hochkomplexer Organismus geworden, jeder einzelne Mensch ist nur ein winziges „Rädchen“ davon. Der gefühlte und erkannte Zusammenhang zum „Rest“ und zur Natur geht immer mehr verloren. Das liegt nicht nur an der Spezialisierung selbst, sondern auch an der Institutionalisierung des gesellschaftlichen Lebens. „Schuld“ daran sind aber auch Dinge, die wir üblicherweise als Segen betrachten: Internet, soziale Medien, mobile Apps in fast allen Lebensbereichen. Die wirkliche Welt wird durch eine virtuelle Welt ersetzt, wir behindern uns immer mehr selbst in unserer Erkenntnis.

Entfremdung ist für mich das Hauptproblem der Gegenwart. Sie hindert uns daran, die wirklichen Probleme zu erkennen und zu lösen: Die unverminderte Ausbeutung und Zerstörung der Natur und die Zersplitterung der Gesellschaft. Es ist ein regelrechter Teufelskreis.

Sie haben lange in Kasachstan gelebt und gearbeitet, helfen bei der Entwicklung des Tourismus und haben Reiseführer sowie zahlreiche Artikel über das Land geschrieben. Was hat Sie dazu inspiriert?

Die Natur, die Menschen in ihrer zum Teil noch sehr ursprünglichen Kultur, der Kontrast zu Deutschland und Mitteleuropa. Ich verstehe erst jetzt, dass es eben die Nicht-Entfremdung war, die mich vor ca. 25 Jahren hier so fasziniert hat. Die Menschen damals waren noch viel mehr in ihrer Gemeinschaft aufgehoben, und sie waren teilweise auch noch viel enger mit der Natur verwoben. Das ändert sich gerade ganz gewaltig, vor allem in den Städten.

Lange konnten Sie aufgrund der Corona-Pandemie nicht nach Kasachstan einreisen. Jetzt waren Sie wieder hier und stehen weiterhin für die Umwelt ein. Sagen Sie, hat sich in Kasachstan etwas zum Positiven verändert?

Das Umwelt-Thema bewegt mich auch in Deutschland. Ich bin inzwischen aufs Land gezogen und versuche auch in meinem Dorf, gemeinsam mit anderen, verschiedene Umweltschutzprojekte anzuschieben.

In Kasachstan war ich jetzt für zwei Wochen. Ich habe für den WWF Kasachstan und gemeinsam mit ACBK (Assoziation für die Erhaltung der Artenvielfalt Kasachstans) ein Seminar über Ökotourismus gehalten, in Karoy, unweit vom Balchasch.

Ja, klar hat sich hier einiges zum Positiven verändert. Die Zivilgesellschaft ist stärker geworden, man kann Probleme weitgehend angstfrei thematisieren, ohne befürchten zu müssen, bestraft zu werden. Es ist gut, dass die Regierung erkannt hat, dass die Zivilgesellschaft so eine Art Immunsystem der Gesellschaft ist und deswegen nicht nur eine Daseinsberechtigung hat, sondern aktiv entwickelt werden muss. Man kann zwar einen Menschen mehr oder weniger erfolgreich gegen eine Krankheit impfen, aber eine Gesellschaft nicht. Eine Gesellschaft muss sich von innen heraus entwickeln und stärken. Menschen müssen Verantwortung lernen und übernehmen. Da sind wir schon wieder bei der Entfremdung. Verantwortung ist das beste Rezept gegen Entfremdung.

Es gibt aber auch Entwicklungen, die mich außerordentlich ärgern. Die Zerstörung des Taldykol in Nursultan zum Beispiel. Da wird das letzte Ökosystem „vor der Tür“ einfach zugeschüttet und dem besinnungslosen Wachstum der Metropole geopfert. Dabei könnte genau dieser See mitten in der Hauptstadt so etwas wie der Central Park von Nursultan werden, eine grüne Lunge, eine Oase, ein Geschenk der Natur an den Menschen. Hier können die Kindergärten und Schulen Umweltbildung zelebrieren, hier kann der Nursultan-Marathon durchgeführt werden. Die Glücksvögel der Kasachen, die Schwäne, wären mitten unter den Menschen – was für eine schöne Vorstellung.

Planen Sie weitere Projekte in Kasachstan?

Im Moment ist wegen der Pandemie-Maßnahmen alles schwer planbar. Ja, ich würde gern wieder Reisen nach Kasachstan anbieten. Auch würde ich gern aktiv an der Entwicklung ökotouristischer Projekte mitarbeiten. Das Balchasch-Projekt des WWF ist nur ein Beispiel.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Kristina Librikht.

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