„Glück ist immer am anderen Ufer“, behauptet ein chinesisches Sprichwort. Die bekannte russlanddeutsche Redakteurin, Publizistin und Autorin Nelli Kossko nimmt dieses Sprichwort nicht ernst, denn sie ist fest überzeugt, dass jeder Mensch die Veranlagung hat, glücklich zu sein. Das Glück muss man nur erkennen, wenigstens für einen Augenblick.

Obwohl ihr Leben nicht auf Rosen gebettet war, liebt sie es so, wie es war und heute noch ist. Es sind die Erfahrungen, die spontanen Entscheidungen und die wichtigen Begegnungen, die ihren Lebensweg prägten. Sollte Nelli Kossko heute ein Buch über die besonders wertvollen Momente verfassen, würde sie ihm den Titel „Verweile doch, du bist so schön!“ verleihen. Der Zauber des Momentes bedeutet ihr sehr viel. Er spendet ihr Mut und Kraft und regt die kostbaren und flüchtigen Glücksgefühle an.

Mutig, stark, wissbegierig und lebensunruhig ist Nelli Kossko schon ihr Leben lang gewesen. Eine „eiserne Lady“, die auch heute noch „immer bereit ist, in den Kampf zu ziehen“, die nicht selten „das Unerreichbare erreichte und die unlösbaren Aufgaben löste“. Zu danken dafür hat sie ihrer Mutter, die wie besessen war in ihrem Bestreben, der Tochter eine solide Ausbildung zu ermöglichen. Vielleicht ist es auch ihre eigene Offenheit und Hartnäckigkeit, die sie durch das Leben jagt und zu neuen Horizonten führt.

1956 machte sie ihr Abitur. Dieses Ereignis fiel zum Glück mit der „Befreiung“ vom Sondersiedlerstatus zusammen, und Nelli fuhr von der Kolyma an der Beringstraße in den 9000 Kilometer entfernten Ural, um dort zu studieren. Nicht jeder junge Mensch riskierte es in diesen schweren Zeiten, ein Studium aufzunehmen. Die meisten ihrer Bekannten strebten andere Ziele an: „ein Häusle bauen, Geld verdienen, Familie gründen“. Für Nelli wäre solch ein eintöniges Leben kaum denkbar gewesen, denn sie setzte andere Prioritäten und hatte ein anderes Wertesystem vor Augen. Sie fühlte sich in der Lage, die notwendigen Schritte in die eigene Zukunft zu gehen. Schon als neunjähriges Mädchen hatte sie gelernt, Entscheidungen zu treffen, und tat es damals, um ihre eigene Existenz und die ihrer Mutter zu sichern und beide vor der Hungersnot zu retten.

Zwischen deutscher und russischer Kultur

Seit ihrer Jugendzeit war ihr Alltag einerseits geprägt vom Hass ihres Umfelds auf die Deutschen und alles Deutsche, andererseits vom Druck der Mutter, die nicht müde wurde zu wiederholen, dass sie „deutsch sprechen, deutsch beten, deutsch schreiben und deutsch bleiben muss“. So wurden Nelli und ihresgleichen geächtet, verhasst und zu Außenseitern gemacht. Es gab da aber noch etwas, das ihr Leben beeinflusste und dessen Stärke sie erst in Deutschland einschätzen konnte. Es waren die russische Gesellschaft, die russischen Menschen, die russische Musik, die russische Literatur und die russische Lebensart – all das hat sie nicht weniger geprägt als die deutsche Lebensart zu Hause, die die Mutter mit Strenge pflegte. Mit Erstaunen stellt Nelli heute fest: je älter sie wird, desto stärker fühlt sie dieses besondere „Russland“.

In Moldawien, wo sie zuletzt mit ihrer Familie bis zur Ausreise lebte, konnte man den Sender RIAS Berlin empfangen. Er brachte ihr jeden Abend ein Stück Heimat ins Haus – den lieblichen Klang der Muttersprache und den der deutschen Volkslieder. Oft kamen ihr beim Zuhören die Tränen. Eines Abends erwischte sie eine ihrer Studentinnen dabei, die aber damals dazu nichts sagte. Erst beim Abschied meinte sie: “Sind Sie sicher, dass Sie in Deutschland beim Klang der russischen Weisen nicht auch weinen werden?“ Nelli denkt oft an ihre Worte, in denen ein gerüttelt Maß an Wahrheit liegt. Sie mag die wohltuende Wärme der russischen Melodien sowie die Klangfarbe alter deutschen Volkslieder und nimmt beides mit dem gleichen Gefühl der Dankbarkeit auf. Dieses Gefühl wird sie sich niemals nehmen lassen.

Nelli Kossko ist nicht nachtragend. Sie kann verzeihen und hat es gelernt, zwischen dem russischen Volk und der sowjetischen Ideologie zu unterscheiden. Diese Charaktereigenschaft erleichtert es ihr, die Vergangenheit objektiv aufzuarbeiten und das, was man ihr in der Sowjetunion angetan hat, abzumildern. Doch mit Vergessen hat das nichts zu tun. Dass vielen ihrer Landsleute dieser Sinn fehlt, wenn es um die stalinistische Vergangenheit geht, und beide Seiten, die Russen wie die Deutschen, immer wieder gegeneinander aufrechnen, bedauert die Schriftstellerin sehr. Sie selbst hat immer versucht, nicht im Zorn zurückzublicken, sondern nach vorne zu schauen und jeden Tag wie ein Geschenk Gottes zu empfangen.

Nelli Kossko startet bei der Deutschen Welle durch

Eine Studie belegt, dass es zutiefst menschlich ist, die Ergebnisse der eigenen Handlungen auf sich selbst zurückzuführen. Es macht unabhängig von externen Belohnungen, weil das positive Gefühl des Stolzes uns selbstbewusst und unabhängig macht. Um dieses Gefühl zu erleben, muss man aber lernen, langfristige Pläne im Leben zu setzen. Erst dann kann man richtig stolz auf sich sein. Nelli Kossko hat es gelernt: ihr ganzes Leben war und ist auf die Sekunde verplant und von der Zeit bestimmt.

Heute hat sie vor allem sich selbst zu verdanken, dass ihre Lebensbahn – allen Schicksalshürden und Unannehmlichkeiten zum Trotz – abwechslungsreich und glücklich ist. Es war ihr vergönnt, einen wesentlichen Beitrag für ihr Volk zu leisten – sei es durch die moralische Unterstützung von Ausreisewilligen, durch Hilfe beim Erlangen von Ausreisegenehmigungen oder durch die Herstellung von Kontakten zu Verwandten drüben wie hier über die Sendungen der Deutschen Welle, wo sie schon im ersten Jahr in Deutschland angestellt worden war. „Gott hat dir nicht von ungefähr das Mikro in die Hand gedrückt, tu was für deine Leute“ – dachte sie damals, und nutzte die Möglichkeiten ihres Jobs 19 Jahre lang voll und ganz für diesen Zweck aus.

Als dann in den 1990ern die große Welle der russlanddeutschen Aussiedler mit riesigen Integrationsproblemen, minimalen Sprachkenntnissen und null Ahnung von der neuen Heimat kam, stampfte Nelli Kossko die russischsprachige Zeitung „Ost Express“ aus dem Boden, um ihre Landsleute in der Sprache, die sie beherrschten, über Deutschland aufzuklären. Die Zeitung erntete Lob, Anerkennung und Dankbarkeit der Leser, die sich ohne sie nicht hätten zurechtfinden können. Lange Jahre engagierte sie sich in der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland als Bundesvorstandsmitglied und stand mit aufopfernder Hingabe im Dienste ihrer Landsleute. Für ihren Einsatz wurde sie 2007 mit der Goldenen Nadel der LMdR ausgezeichnet.

Besondere Auszeichnung für Nelli Kossko

Ihr Stolz gilt auch ihrem langjährigen Engagement für eine bessere Verständigung zwischen Russlanddeutschen und einheimischen Deutschen. In Zeitungen und Zeitschriften publizierte sie zahlreiche kulturpolitische Beiträge, Abhandlungen und Erzählungen auf Deutsch und Russisch, in denen sie der Gesellschaft ihre Erkenntnisse mitteilte. Ihre Erlebnisse der Kriegs- und Nachkriegszeiten hielt sie in ihren Büchern fest. In den Werken „Die geraubte Kindheit“, „Am anderen Ende der Welt“, „Wo ist das Land…“ und „Du, mein geliebter „Russe“ erzählt die Schriftstellerin die zum großen Teil noch unbekannte Geschichte der Russlanddeutschen, weil sie weiß, dass dieses Thema in unserer Gesellschaft noch immer auf Vorurteile, Desinteresse und Unkenntnis stößt.

Besonderen Stolz empfand Nelli Kossko als sie 2008 mit dem Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet wurde. Bei der Überreichung dieser großen Auszeichnung in Mainz bedankte sie sich nicht nur in ihrem eigenen Namen, sondern auch im Namen aller Russlanddeutschen, die den schweren Weg zurück geschafft haben: „Es ist eine große Ehre für mich, diese hohe Auszeichnung unseres Landes entgegennehmen zu dürfen, und ich darf sie wohl als eine Auszeichnung nicht nur für mich persönlich betrachten, sondern für die Deutschen aus Russland, für die Menschen, die nach mehr als einem halben Jahrhundert Verfolgungen hierhergekommen sind, um eine Heimat zu finden.“

Faszinierend und erfolgreich

Die Schriftstellerin Nelli Kossko musste in ihrem Leben viele wichtige Entscheidungen treffen. Sie ist aber überzeugt, dass die wichtigste davon war, nach Deutschland auszuwandern. Und seit 1975, als sie mit ihrer Familie in das Land ihrer Sehnsüchte kam, hat sie es keine Minute bereut. Insbesondere, wenn sie sieht, wie sich ihre Kinder, Enkel und Urenkel entfalten: Sie weiß, dass sie recht behalten hatte. Und darauf ist sie auch mächtig stolz, denn nebst ihrer turbulenten Lebensweise ist es ihr trotz unzähliger beruflicher und öffentlicher Aufgaben über die Jahre gelungen, ein ausgesprochener Familienmensch zu bleiben. Sie fühlt sich in der Rolle einer glücklichen Mutter und heißgeliebten Oma und Uroma sehr wohl.

Im Nachwort zu ihrem Buch „Wie Sand zwischen meinen Fingern“ schreibt Nelli Kossko: „Es gab verschiedene Tage in meinem Leben: düstere und ausweglose, regnerische und sonnige, es gab Kummer und Glück, Freundschaft und Verrat, und es gab die große Liebe…“ Summa summarum ergab sich aus all diesen Erlebnissen eine bunte Palette von Gefühlen, die den Charakter der Schriftstellerin formten, ihre Durchsetzungskraft stärkten und sie zu einer Kämpferin und einer faszinierenden und erfolgreichen Frau machten. Zu einer Frau, die Augenblicke wahrnehmen und festhalten konnte.

Rose Steinmark

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