Es weht ein eisiger Wind über die Steppe Kasachstans. Obwohl es schon Mitte Mai ist, fröstelt es die Besucher, die an diesem Tag zu der Gedenkstätte des ehemaligen „Akmolinsker Lagers für Frauen von Vaterlandsverrätern“ (kurz: ALSCHIR) kommen. Man möchte sich gar nicht vorstellen, wie es den tausenden Menschen ergangen sein muss, die zwischen 1938 und 1956 hier inhaftiert gewesen waren.
Rund eine Stunde von der Hauptstadt Nur-Sultan (vormals Astana) ist die Gedenkstätte entfernt. Es ist ein symbolischer Ort. Schon von weitem kann man den 18 Meter hohen Trauerbogen erkennen. Ein Eisenbahnwaggon, der eigentlich für Viehtransporte gedacht ist, erinnert an die Deportationen. Frauen und Kinder aus 62 Ethnien kamen hierher, weil ihre Ehemänner, Söhne, Väter oder Brüder von der Sowjetmacht zu sogenannten Volksfeinden erklärt worden waren. Rund um den Bogen haben einige Botschaften, darunter auch die deutsche, Gedenksteine aufgestellt.
Lesen Sie auch: Geschichte, die nichts schönt
Wer weiter Richtung Museum geht, das die Form eines abgeflachten Rondells hat, sieht links die Statue eines Mannes, der in sich zusammengesunken für die Verzweiflung und Machtlosigkeit steht, und rechts die Statue einer sitzenden Frau, die Hoffnung symbolisieren soll. Im Dezember 1937 wurde auf Befehl von Beria, Stalin und Jeschow ALSCHIR eröffnet. Als Teil des GULAG-Systems war es eines von insgesamt 11 Lagern in der Kasachischen SSR. Zu den Hochzeiten waren hier bis zu 8.000 Frauen gleichzeitig interniert – aus allen Teilen der Sowjetunion.
Ins Museum selbst führt ein langer, dunkler Gang. In der Haupthalle symbolisiert die durch einen Stein brechende „Blume des Lebens“ den Fortgang des Lebens trotz allen Leids. Darüber hängt eine Gitterkonstruktion, in der 15 Tauben gefangen sind – für jede ehemalige Sowjetrepublik eine. An den Wänden sind in Glasvitrinen die Bilder von Kasachen, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts für die Gründung einer kasachischen Nation und ein autonomes Kasachstan einsetzten. Die Museumsführerin beschreibt, wie die Sowjetmacht nach und nach gegen die kasachische Intelligenzija vorging. Auch die Zwangskollektivierung ab 1928 und die Hungersnot 1932-33 werden thematisiert. Rund drei Millionen Menschen – vor allem Kasachen – starben in diesen Jahren.
In einem Nebenraum werden an die Deportationen von etwa 1,3 Millionen Menschen und an die Dezember-Unruhen von 1986, die – zu Unrecht – als erster nationalistischer Aufstand in der Sowjetunion gelten, erinnert. Es sind deutsche Trachten ausgestellt, die beispielhaft für die nach Kasachstan deportierten verschiedenen Ethnien stehen sollen: Deutsche, Polen, Koreaner, Krimtataren, um nur einige zu nennen.
Lesen Sie auch: Dolinka – Ein Denkmal für den Schrecken
In der zweiten Etage geht es weniger um die Geschichte Kasachstans als vielmehr um die Geschichte des Lagers an sich. Besonders eindrücklich ist die Nachstellung eines Verhörs. Ein Beamter sitzt an seinem Schreibtisch, davor eine junge Frau auf einem Hocker, hinter ihr ein weiterer Aufseher. „Schauen Sie, die Füße der Frau reichen nicht einmal bis auf den Boden. Nach einigen Stunden musste sie in Ohnmacht fallen“, erklärt die Museumsführerin. Darüber steht die Losung: „Fürs Vaterland, für Stalin!“ Es sind Bilder der inhaftierten Frauen und Kinder sowie einige persönliche Gegenstände wie Kinderschuhe ausgestellt.
Draußen heißt es erst einmal durchatmen. Beim Herausgehen fällt noch eine Baracke aus Lehm auf. Darin ist nachgestellt, wie NKWD-Beamte einer Mutter ihr Kind wegnehmen wollen. Bis zum Alter von drei Jahren durften Kinder im ALSCHIR bei ihren Müttern bleiben. Dann wurden sie ins Waisenhaus geschickt. Bis zu zehn Jahren mussten die Frauen im Lager verbringen. 1956 wurde es geschlossen und die (ehemaligen) Insassen wurden rehabilitiert.