Die Bibel als Familienreliquie und Identitätssymbol im protestantischen Glauben der Russlanddeutschen.

Im August dieses Jahres habe ich nach langem Suchen und unzähligen Schreiben endlich die NKWD-Personalakte meines Urgroßvaters Johannes Mertins erhalten. Nachdem ich die ausgefüllten Formulare, Arbeitszeugnisse, amtlichen Bescheinigungen, Briefe usw. aus seiner Mappe gelesen hatte, erhob sich sein Bild vor meinen Augen, und wie ein Film lief in meinem Kopf die Geschichte von der Bibel und vom Gesangbuch, die vor sehr langer Zeit meinem Urgroßvater gehört hatten.

Ich habe immer wieder versucht, mir vorzustellen, wie es damals in der Sowjetunion in den 1930er bis 1955er Jahren gewesen sein muss, und was es für einen protestantischen Christen wie meinen Urgroßvater zu dieser Zeit bedeutete, eine Bibel und ein Gesangbuch auf Deutsch zu besitzen. Es war mir klar, dass man in ständiger Angst gelebt haben muss, weil jede Religion von der kommunistischen Partei als „Opium für das Volk“ abgestempelt wurde. Die Kirchen, Moscheen und Synagogen, ebenso wie fast alle christlichen und buddhistischen Klöster im Sowjetreich, wurden entweder geschlossen oder zerstört, die Mönche erschossen und Millionen unschuldige Gläubige in GULAGs gesperrt.

Eine mutige Entscheidung

Wenn ich darüber nachdenke, empfinde ich den größten Respekt vor dem, was mein Urgroßvater Johannes und seine Kinder geleistet haben. Die damaligen kommunistischen Machthaber hatten den Besitz religiöser Bücher verboten. Es war buchstäblich lebensgefährlich, öffentlich sein Glaubensbekenntnis zu zeigen oder einen Gottesdienst durchzuführen. Aber trotz all dieser Verbote, Verfolgungen, trotz aller Todesangst, entscheidet mein Urgroßvater im Sommer 1941, die Bibel sowie das Gesangbuch auf den langen Weg von der Ukraine nach Kasachstan mitzunehmen. Was für eine mutige Entscheidung angesichts dessen, dass er zusammen mit seiner ersten Ehefrau Elgilina, ihren fünf Kindern und vielen anderen Menschen im Güterwagon das Land durchqueren musste!

Hätten die Tschekisten alles gründlich durchsucht, dann wäre das Urteil vermutlich an der Stelle schnell gefallen. Aber Gott hat seine schützende Hand über die ganze Familie Mertins gehalten – „Ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit“. Und so sind die Bibel, das Gesangbuch sowie die ganze Familie heil in der „neuen Heimat“ nahe der Bahnstation Schiili, im Gebiet Kysylorda, angekommen.

Hungertod und Arbeitsarmee

Als mein Urgroßvater mit seinem ältesten Sohn Alexander im September 1941 in die Arbeitsarmee zwangsrekrutiert wurde, überließ er die Familienbibel zusammen mit dem Gesangbuch seiner Ehefrau Elgilina und der ältesten Tochter Amalia. Einige Wochen später wollte die örtliche Kommandantur auch meine Urgroßmutter Elgilina zwangsmobilisieren und in die Arbeitsarmee stecken, obwohl sie vier kleine Kinder hatte. Meine Großmutter Amalia hat sich aber als 17-Jährige freiwillig gemeldet, damit ihre Mama mit ihren Geschwistern „zu Hause“ bleiben konnte.

So kam meine Großmutter in die Arbeitsarmee nach Scheskasgan unter die Aufsicht der dortigen Kommandantur. Ihre mutige Entscheidung konnte jedoch das Leben ihrer Mutter leider nicht retten. Alles, was sie an Essen bekommen konnte, hatte sie ihren vier Kindern gegeben. Urgroßmutter Elgelina starb 1945 an ihrer chronischen Unterernährung und Erkrankung. Und so sind vier kleine Kinder nach dem Hungertod ihrer Mutter die Besitzer der Familienbibel und des Gesangbuches geworden. Bevor sie aber getrennt und in verschiedenen Waisenhäusern untergebracht wurden, hatten sie es noch geschafft, die Familienreliquien in einem Versteck zu vergraben. Als mein Urgroßvater aufgrund seiner familiären Situation 1946 aus der Arbeitsarmee entlassen wurde und nach Schiili kam, holte er zuerst seine Kinder aus den Waisenhäusern. Danach zeigten die Kinder das Versteck, wo seine Bibel und sein Gesangbuch lagen.

Kirchlich aktiv trotz Verbot

Bis zu seinem Tod 1970 dienten ihm das Heilige Buch sowie das Gesangbuch bei Gottesdiensten, Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen. Mein Urgroßvater arbeitete als Schmied in einem Traktorenwerk, betrieb Viehzucht und war in der Siedlung ein inoffizieller Pfarrer der Gemeinde. Dass er dort eine große Persönlichkeit war und ein hohes Ansehen genoss, war am Tag seiner Beerdigung zu sehen. Laut meiner Großmutter Amalia kamen Hunderte von Menschen verschiedener Nationalitäten, um Abschied von ihm zu nehmen. Mein Urgroßvater war bis zu seiner Krebserkrankung beruflich und kirchlich aktiv. Und das, obwohl keine evangelische Kirche in der Siedlung existierte und eine solche religiöse Aktivität immer noch verboten war.

Kurz vor seinem Tod hat mein Urgroßvater die Bibel seiner zweiten Ehefrau Klara Mertins (geb. Rapp) und das Gesangbuch seinem ältesten Sohn Alexander und seiner Ehefrau Alida (geb. Schelinsky) übergeben. Leider weiß ich nichts mehr über das weitere Schicksal der Familienbibel, weil sie im Besitz der Witwe meines Urgroßvaters sowie seiner Kinder aus der zweiten Ehe verblieben ist. Die Witwe meines Urgroßvaters ist mit ihren vier Kindern zu ihren Verwandten nach Tscherepowez in Russland gezogen.

Aber das Gesangbuch, das 1874 in Berlin im Verlag der Königlichen Geheimen Ober- Hofbuchdruckerei gedruckt worden war, fand seinen Weg zurück in die Heimat nach Pforzheim, als Alida Mertins mit ihren beiden Söhnen Alexander und Eduard nach Deutschland umsiedelte. Ich kann nur vermuten, dass die Bibel aus dem gleichen Jahr und dem gleichen Verlag in Berlin stammte. Nach dem Tod seiner Mutter Alida ist jetzt mein Onkel Eduard im Besitz des Gesangbuches.

Bibel und Gesangbuch als App auf dem Handy

Es ist sehr viel passiert seit dem Tod meines Urgroßvaters. Das Sowjetimperium existiert nicht mehr, und die Zeiten der Gottlosigkeit in den ehemaligen Sowjetrepubliken sind vorbei. Jetzt sind die Staaten unabhängig, und jeder Bürger darf seinen Glauben ohne Angst ausleben. Heute hat man die Bibel oder das Gesangbuch als App auf dem eigenen Handy. Es ist eigentlich schön, dass sie immer dabei sind. Leider kann man diese App nicht weitergeben wie im Fall unserer Familie. Man kann da nichts eintragen, und man wird beim Herumscrollen keine Spuren der anderen entdecken. Also keine Eselsohren, keine vergessenen Notizzettel, keine Bemerkungen. Umso wertvoller sind die erhaltenen Exemplare aus der vergangenen Zeit für die neuen Generationen. Denn sie sind Zeugen jener schrecklichen Zeit und Zeugen aller Strapazen, die unsere Vorfahren erduldet haben.

Meinen lieben Onkeln Max Ospanow und Eduard Mertins bin ich für Ihre unschätzbare Hilfe und ausführlichen Erinnerungen herzlich dankbar. Jede erzählte Geschichte über meine Wurzeln ist für mich, den Vertreter der jungen Generation, eine Quelle des Wissens. Wie eine Zeitmaschine, durch die ich in die Vergangenheit meiner großen Familie eintauchen kann.

Valentin Ospanow

Teilen mit:

1 Kommentar

  1. Eine sehr schöne Geschichte, die zeigt, wie gläubig die Deutschen in Russland und später in der Sowjetunion waren. In einem Punkt widerspreche ich jedoch. Es waren nicht nur protestantische Deutsche, die einen festen Glauben hatten. Auch die anderen Deutschen haben ihre Bibeln und Gesangbücher trotz aller Widrigkeiten bewahrt und mit dem Glauben weitergegeben. Viele Deutsche aus Russland sind im Besitz solcher Familienbibeln und Gesangbüchern. In der Zeit, als man keine gedruckten Exemplare kaufen konnten, wurden die Bibelstellen und Lieder mühselig per Hand abgeschrieben.

Kommentarfunktion ist geschlossen.