Ein Interview mit dem Autor Georg Smirnov
Georg Smirnov veröffentlichte im April 2024 im Aachener Rimbaud Verlag seinen ersten Lyrikband unter dem Titel „Zurichtungen“, der bei zahlreichen Lesungen des Autors auf eine bereits sehr positive Resonanz beim Publikum stieß. Georg wurde 1981 in Russland geboren. Seine frühe Kindheit verbrachte er in Kirgisistan. 1990 siedelte er mit seiner Familie nach Deutschland über. Nach einer mehrjährigen dokumentarischen Tätigkeit für den Rundfunk Berlin-Brandenburg ist er seit 2015 hauptberuflich als Dokumentar mit dem Arbeitsschwerpunkt NS-Geschichte in Köln tätig.
Artur Böpple: Lieber Georg, wo stammst du genau her und wie kamst du nach Deutschland?
Georg Smirnov: Wenn ich nach meiner Herkunft gefragt werde, muss ich mit einem kurzen Abriss meiner Familiengeschichte beginnen. Meine Mutter ist Russlanddeutsche, mein Vater ist gebürtiger Russe. Meine Großeltern mütterlicherseits wurden Ende der 1930er Jahre als Kinder aus der Gegend um Shytomyr zunächst ins ostukrainische Gebiet des heutigen Luhansk und anschließend nach Jasnaja Poljana in Kasachstan deportiert. 1960 zogen sie nach Nordkirgisistan um. Meine Eltern lernten sich während des Studiums im zentralrussischen Iwanowo kennen. Nach Beendigung ihres Studiums zogen sie nach Kineschma in die Nähe meiner russischen Großeltern. Dort wurde ich 1981 geboren. 1984 zogen meine Eltern mit mir nach Kirgisistan, genauer nach Tokmak, die Stadt, in der meine russlanddeutschen Großeltern lebten. Diese bemühten sich bereits seit den 1970er Jahren um eine Ausreise aus der Sowjetunion in die BRD. Jahr für Jahr wurden ihre Ausreiseanträge abgelehnt. Erst 1990 kam die Erlaubnis, das Land zu verlassen, und so siedelte meine Familie nach Deutschland um. Nach Stationen in den Erstaufnahmeeinrichtungen in Bramsche und Unna kamen wir letztlich nach Hückelhoven im Kreis Heinsberg in NRW. Dort lebte ich in unterschiedlichen Stadtteilen bis zu meinem Abitur im Jahr 2001. Heute bezeichne ich diese niederrheinische Gegend als meine deutsche Heimat.
Wie verlief bei dir der Prozess der Integration in die neue Gesellschaft? Zählst du dich z.B. selbst zur sogenannten „mitgebrachten Generation“? Denkst du, es war ungerecht, dass du als Kind nicht gefragt wurdest, ob du ausreisen willst oder nicht?
Als meine Mutter mir einige Monate vor unserer Übersiedlung in die BRD von dem bevorstehenden Umzug erzählte, war ich als achtjähriges Kind gerade dabei, eine sowjetische Identität auszubilden. Ich war stolz, in einem so großen und landschaftlich, klimatisch, kulturell und sprachlich so vielfältigen Land zu leben. In der Schule lernte ich Kirgisisch, ich festigte erste Freundschaften und entwickelte Interessen und Hobbies. Und plötzlich musste ich all das verlassen und in einem mir vollkommen fremden Land komplett neu anfangen. Ich zähle mich definitiv zur „mitgebrachten Generation“, mitgebracht und auf sich allein gestellt. Als meine Familie in Deutschland ankam, konnte ich weder ein Wort Deutsch noch kannte ich die hiesigen Gepflogenheiten. Ich war verunsichert und eingeschüchtert. Ich sah auch, wie meine Eltern nur mit Mühe im neuen System klarkamen. Meine Mutter machte Umschulungen und putzte fremde Haushalte, mein Vater fing sofort an, bei Philips am Fließband zu arbeiten. Meine Eltern sah ich kaum und musste als Kind allein klarkommen. Aber ich lernte sehr schnell. Als ich zwei Jahre später aufs Gymnasium kam, war mein Deutsch so gut, dass ich gar nicht mehr als Aussiedlerkind auffiel. Nicht aufzufallen, das war mein ehrgeiziges Integrationsziel. Meine Herkunft sollte für niemanden erkennbar sein. Ich verbrachte Jahre damit, meine Mitschüler:innen sehr genau zu beobachten und ihr Verhalten und ihre Ausdrucksweisen zu kopieren. Ein wahnsinniger Kraftakt.
Wann „erwachte“ bei dir das Bedürfnis, Literatur zu machen? Durch Bücher, Personen, sonstige Ereignisse?
Ich komme aus einem sehr literaturaffinen Haushalt. Mein Vater stammt aus einer Akademikerfamilie, in der Bücher seit Generationen zum Alltag gehörten. Von der Familienseite meiner Mutter gab es eine große Verbundenheit zu christlicher Literatur. Meine erste Klassenlehrerin in Kirgisistan legte viel Wert auf literarische Erziehung. Sobald ich lesen konnte, verschlang ich alle Bücher, derer ich habhaft werden konnte. Ich begann schon als Kind, erste Gedichte und Geschichten zu schreiben. Dabei orientierte ich mich an dem Schreibstil der berühmten sowjetischen Dichterin Agnija Barto. Zu den wenigen Dingen, die meine Eltern aus Kirgisistan mit nach Deutschland genommen hatten, gehörte eine kleine Bibliothek. Ich besitze nach wie vor die meisten meiner Kinder- und Jugendbücher aus der Sowjetunion.
In Deutschland begann ich damit, Tagebuch zu schreiben und meinen Alltag zu dokumentieren. Seitdem wir die Sowjetunion verlassen hatten, hatte ich permanent das Gefühl, die Kontrolle über mein Leben verloren zu haben. Das Schreiben war mein Mittel, mit diesem Kontrollverlust umzugehen, und es half mir auch dabei, besser Deutsch zu lernen.
Mit etwa vierzehn Jahren entdeckte ich im Schulunterricht die Poesie Friedrich Hölderlins. Der Umstand, dass er seine letzten Lebensjahre in „geistiger Umnachtung“ verbrachte und dennoch weiter Gedichte schrieb, beeindruckte mich tief und ebnete den Weg zu einer langanhaltenden Faszination für die abseitigen, unkonventionellen, verkannten und „wahnsinnigen“ Autor:innen der Literaturgeschichte. Zwischen meinem 16. und 20. Lebensjahr, verfasste ich Hunderte von Gedichten. Ich zeigte sie niemandem und hoffte darauf, dass man sie irgendwann nach meinem Tod entdecken würde. Diesen Größenwahn verdankte ich wohl meiner Identifikation mit jung verstorbenen Autoren, die denselben Vornamen trugen wie ich: Georg Heym, Georg Trakl, Georg Büchner.
John Irving schrieb einst in seinem Roman „Zirkuskind“: „Ein Einwanderer bleibt Zeit seines Lebens ein Einwanderer.“ Stimmst du dem zu? Welche Rolle spielt für die Themenauswahl in deiner Lyrik und Prosa dein Background und die Erfahrung eines Zugewanderten? Wie wirkt sich das auf dein Schaffen aus?
Meine Migrationserfahrung ist eng verknüpft mit einem tief empfundenen Gefühl des Nichtdazugehörens, des ständigen, oft vergeblichen, Bemühens um Sichtbarkeit, Aufnahme und Anerkennung. Ich fühle mich in keiner mir nahestehenden Kultur heimisch. Ich empfinde mich in allen Kulturen als Gast, als Tourist, als Vorbeiziehender. Auch in den Sprachen, die ich spreche. Ich habe Kirgisisch nicht zu Ende gelernt, Russisch verlernt und das Deutsche lerne ich nie aus. Obwohl Deutsch mittlerweile die Sprache ist, die ich zu beherrschen und zu lieben glaube, gibt es noch so viel, das ich nicht verstehe. Mein Schreiben ist ein ständiges Suchen, ein Tasten, ein Beobachten, ein Nachahmen und Zitieren. In meinen Texten geht es oft um die Schwierigkeit bis Unmöglichkeit einer Verortung und Fixierung des Individuums innerhalb einer unbestimmbaren Topografie von unzähligen Möglichkeiten.
Wie entstand die Idee für dein erstes Buch? Wie verlief der Entscheidungsprozess für Konzept und Form?
Der Weg zu meinem im April 2024 im Aachener Rimbaud Verlag erschienenen Lyrikdebüt „Zurichtungen“ war ein gewissermaßen lebensumfassender Prozess. Ich habe mich über Jahre hinweg mit der Geschichte meiner Familie und den Einzelschicksalen meiner Vorfahren auseinandergesetzt. Ich suchte lange nach einem Weg, meine Erkenntnisse literarisch umzusetzen. Im Laufe der Zeit wurde ich auf die Arbeit von Institutionen wie dem BKDR (dem Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland – Anmerkung des Herausgebers), dem Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte und der LmDR (der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland – Anmerkung des Herausgebers) aufmerksam. Die Projekte dieser Einrichtungen machten großen Eindruck auf mich. Vor allem die Podcasts „Steppenkinder“ und „X3“ ermutigten mich, mich noch intensiver mit meiner Familiengeschichte und meiner eigenen Migrationserfahrung zu befassen und diese auch publik zu machen.
Eine Ausschreibung des BKDR für den Literaturalmanach der Russlanddeutschen 2023 gab mir den nötigen Ansporn, mein literarisches Projekt endlich umzusetzen. Ich schrieb einen aus 17 Kapiteln bestehenden Prosatext, der mit einem Gedicht abschloss. Ich verarbeitete darin in knapper Form meine familiengeschichtlichen Erkenntnisse der letzten Jahre. Doch irgendwie war ich nicht zufrieden mit der Form des Textes. Ich wusste nicht, woran es lag. Ich bekam dann den Hinweis, ob ich es nicht mehr mit Lyrik versuchen wollte. Plötzlich merkte ich, dass das der richtige Weg war. Was der Text brauchte, war eine radikale Verknappung. Innerhalb weniger Wochen entstand der endgültige Textkorpus, 18 Gedichte, meine „Zurichtungen“, die kurze Zeit später in der Reihe Lyrik-Taschenbuch des Rimbaud Verlags erschienen sind.
Du bist dieses Jahr dem Literaturkreis der Deutschen aus Russland beigetreten. Wie bist du auf unseren Verein aufmerksam geworden? Wie hast du unsere Tätigkeit wahrgenommen?
Als ich mit Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine angefangen habe, mich noch intensiver mit der Geschichte meiner russlanddeutschen Familie, die Anfang des 20. Jahrhunderts in der Ukraine ansässig war, zu befassen und diese auch literarisch zu verarbeiten, begann ich, mich für russlanddeutsche Literatur zu interessieren.
Im Sommer 2023 habe ich erstmals an einem Treffen des Literaturkreises in Oerlinghausen teilgenommen. Dort bin ich in Kontakt mit russlanddeutschen Autor:innen gekommen und hatte die Möglichkeit, meine Texte einer russlanddeutschen Zuhörer:innenschaft zu präsentieren. Eine intensive wie sehr schöne Erfahrung.
Was versprichst du dir von dieser Gemeinschaft? Vernetzung, Unterstützung, Weiterentwicklung bzw. Weiterkommen bei deiner Autorentätigkeit?
Zuallererst ging es mir darum, Kontakt zur schreibenden und lesenden russlanddeutschen Community zu erhalten. Die Mitglieder des Literaturkreises sind eine sehr diverse Gruppe. Sie unterscheiden sich in ihren kulturellen Hintergründen, in ihrem Umgang mit der deutschen Sprache und der Dialektpflege ihrer Vorfahren. Von einer Mitgliedschaft im Literaturkreis der Deutschen aus Russland erhoffe ich mir eine tiefergehende Auseinandersetzung mit aktueller und bereits kanonisierter russlanddeutscher Literatur, einen stetigen Ausbau der Kontakte zu Autor:innen und Akteur:innen innerhalb der Community, ein Mitwirken an der Popularisierung der russlanddeutschen Literatur und deren engere Einbindung in die deutsche, aber auch in die postmigrantische Literaturszene.
Die russlanddeutsche Literatur mit ihren unterschiedlichsten Themen und Schwerpunkten sollte weiterhin ein eigenständiger Literaturzweig bleiben. Dabei ist es wichtig, sich nicht abzukapseln, sondern ganz selbstverständlich in den Austausch mit deutschen, aber auch mit anderen migrantischen Autor:innenvereinen und Initiativen zu treten. Russlanddeutsche Literatur ist deutsche Literatur, ist postmigrantische Literatur; Literatur, die die besten Voraussetzungen dafür mitbringt, sich kritisch mit der (post)sowjetischen Last, aber auch ganz grundsätzlich mit totalitärem Erbe auseinanderzusetzen.
Meinst du, dass die sogenannte russlanddeutsche Literatur und ihre Autoren ein eigenes Literaturinstitut mit eigenem Archiv oder auch nur ein Literaturbüro, also ein Haus der russlanddeutschen Literatur benötigen? Wenn ja, welche Projekte und Maßnahmen sollte deiner Meinung nach eine solche Institution dringend angehen?
Die russlanddeutsche Literatur muss so breit wie möglich aufgestellt sein. Ob es dafür ein Literaturinstitut, ein Literaturhaus oder ein Literaturbüro benötigt, müsste im Einzelnen diskutiert werden. Fakt ist, dass wir eine Institution brauchen, die russlanddeutsche Literatur sowie ihre Autor:innen und Akteur:innen fördert, Projekte realisiert, finanzielle Mittel akquiriert und zur Verfügung stellt.
Die Aufgabe einer solchen Institution müsste dreigliedrig sein: sie muss die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft umfassen. Man muss sich auch zum Ziel setzen, auch jene jungen Autor:innen zu erreichen, die zu den Generationen der bereits in Deutschland Geborenen gehören und sich möglicherweise gar nicht mehr als Russlanddeutsche identifizieren und dennoch ein kulturelles Erbe mit sich tragen, das seinen literarischen und künstlerischen Ausdruck erst durch die passende Förderung finden kann.
Welche Projekte planst du als Nächstes persönlich? Was würdest du am liebsten schreiben?
Mein Ziel ist es, die vielen verschiedenen Biografien meiner Vorfahren und Familienmitglieder, die ich in meinem Lyrikdebüt bruchstückhaft angerissen habe, zu erweitern, zu vertiefen und in einem größeren Projekt, auch im Hinblick auf meine weitverzweigte Familientopografie, miteinander zu verschränken. Ich denke da nicht unbedingt an ein statisches Textprojekt. Mir schwebt eher eine fluide Form vor, etwas in Richtung einer multimedialen literarischen Webdokumentation, die zu einem interaktiven Kollaborationsprojekt ausgeweitet werden kann.
Welche russlanddeutschen Autorinnen und Autoren magst du aktuell am liebsten?
Die zeitgenössische russlanddeutsche Literatur ist besonders reichhaltig. Es gibt viele höchst unterschiedliche, vor allem auch junge Autor:innen, die der russlanddeutschen Literatur aktuell starke Impulse geben. Besonders beeindruckt haben mich in letzter Zeit die autofiktionalen Romane von Artur Weigandt, Inna Hartwich, Viktor Funk und Irene Langemann, die Prosawerke von Melitta L. Roth und Natascha Maier sowie die Gedichtbände von Alisha Gamisch und Lilli Gebhard. Und zu guter Letzt sind die Bücher von Andrej Peters und Artur Rosenstern stets sehr lesenswert.