Eine kleine Geschichte des „Ramstore“ in Almaty.

Am 11. Januar 1869 schlossen sich, nach zwei erfolglosen vorangegangenen Zusammenkünften, die Konsumvereine von Zürich, Basel, Bern, Grenchen, Biel und Olten zum Verband Schweizerischer Konsumvereine (VSK) zusammen. Die Gründung von Genossenschaften und genossenschaftlichen Verbänden war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein durchaus gängiges Unterfangen in der Schweiz, sodass bis zum Jahr 1915 407 Genossenschaften dem VSK angehörten. Der größte Einschnitt in der Geschichte des Genossenschaftsverbands VSK fand im Jahr 1969 statt. Die damals 407 meist lokalen Dorf- und Stadtgenossenschaften wurden auf etwa 30 bis 40 teilregionale Genossenschaften reduziert. Symbolisch zeigte sich diese Umwandlung in der Verbandsstruktur in der Umbenennung der VSK in Coop Schweiz. Der Name Coop leitet sich vom englischen „cooperative“ ab und steht demnach für „Genossenschaft“.

Andere Wege ging der Schweizer Gottlieb Duttweiler. Dieser war in der Konjunktur des Ersten Weltkrieges zu Vermögen gekommen, das er anschließend wieder verlor. Auch der Plan, mit seiner Ehefrau nach Brasilien auszuwandern, scheiterte kläglich. Duttweiler war von verschiedenen Wirtschaftstheorien dieser Jahre beeinflusst und gründete schließlich ein Handelsgeschäft, welches nach heutigen Maßstäben als Discounter zu bezeichnen wäre, sprich: Effizienz durch Menge, viel Umsatz, wenig Gewinn. Im Geschäftsmodell Duttweilers bedeutete dies, dass die Waren direkt von herumfahrenden LKW herunter verkauft wurden, eigene Ladengeschäfte gab es zunächst nicht. Am 25. August 1925 fuhren die ersten fünf Ford-T-Verkaufswagen unter dem Namen Migros Waren in Zürich aus. Dies sahen die anderen genossenschaftlich organisierten Händler gar nicht gerne. Es formierte sich massiver Widerstand. Parteien, Politiker und Gewerkschaften versuchten, die Migros zu ruinieren.

Der Beginn des Sozialismus

Zu dieser Zeit ging es der Bourgeoisie im russischen Zarenreich endgültig an den Kragen. Für den russischen Zaren hat im Jahr 1918 das letzte Stündlein geschlagen. Die Bolschewiken mordeten sich derweil in einem unfassbar grausamen und blutigen Bürgerkrieg durch die landwirtschaftlichen Anbaugebiete des untergegangenen Reiches und beschlagnahmten sämtliche Nahrungsmittel. Die nun als Kulaken beschimpften Bauern mit Landbesitz wurden gehängt und massakriert, ihre Landwirtschaft beschlagnahmt und verstaatlicht, alle übriggebliebenen Landarbeiter in staatlich organisierte Genossenschaften gedrängt. Dies war der erste Schritt auf dem Weg hin zum Sozialismus.

Ein System aus genossenschaftlich organisierten Kollektivwirtschaften (Kolchosen) und staatseigenen landwirtschaftlichen Großbetrieben (Sowchosen) bestimmte von nun an die Erzeugung und den Vertrieb von Lebensmitteln in der Sowjetunion. Im Gegensatz zu Sowchosmitarbeitern waren die Mitglieder in einer Kolchose zumindest formal auch die gemeinsamen Eigentümer der Produktionsmittel, nicht allerdings des Bodens, der dem Staat gehörte.

Trotz seines inzwischen in der Schweiz sehr erfolgreich wirtschaftenden Handelsbetriebs Migros war auch deren Gründer Gottlieb Duttweiler durch und durch sozial eingestellt. Er vermachte die Migros im Jahr 1941 vollständig ihrer Kundschaft, indem das Unternehmen zur Genossenschaft umgewandelt wurde. Ab 1948 besaß Migros ausschließlich Selbstbedienungsläden und spielte damit eine Pionierrolle in diesem Bereich. Seitdem hat der Genossenschaftsbetrieb Migros unzählige soziale Projekte angestoßen. Die 1954 gegründete eigene Tankstellenkette Migrol bot damals Benzin weit günstiger an als die Konkurrenz. 1957 wurde das Migros-Kulturprozent ins Leben gerufen. Seitdem werden von dem Unternehmen jährlich 1 Prozent des Umsatzes in Kultur und Weiterbildung gesteckt. Doch Migros investierte ebenfalls in Reedereien, Versicherungen und Banken. In der Türkei wurde 1954 das Tochterunternehmen Migros Türk gegründet.

Die Zustände am Vorabend des sowjetischen Zusammenbruchs

Während man sich in allen Ecken der Sowjetunion inzwischen mit dem real existierenden Sozialismus abgefunden hatte, erlangte das Unternehmen Migros Türk nach der Übernahme durch die türkische Koç-Investoren- und Unternehmensgruppe 1974 die Unabhängigkeit vom schweizerischen Mutterkonzern. Ob man es bei Migros Türk seitdem mit dem sozialen Wirtschaftsverständnis des Gründers Duttweiler so genau genommen hat, darf bezweifelt werden. In jedem Fall legte die Migros Türk einen steilen Expansionskampf an den Tag und ist heute die größte Supermarktkette der Türkei.

In den 1980er Jahren waren Supermärkte nach amerikanischem und westlichem Vorbild in der Sowjetunion noch die absolute Ausnahme und lediglich betuchten oder politisch aktiven Hauptstadtbewohnern mit Devisen oder zahlungskräftigen, devisenstarken Ausländern auf Reise durch Moskau vorbehalten. Der Rest der sowjetischen Arbeiterschaft schaute im wahrsten Sinne aus der Wäsche. Am Vorabend des Untergangs der Sowjetunion kaufte man Brot, Eier, Wurst und andere Grundnahrungsmittel oft noch wie zu Kaiserzeiten an einem Tresen in einer Verkaufsstelle, und bekam dann alles von einer adrett gekleideten Angestellten in weißer Schürze und mit Haube überreicht. Vorausgesetzt, es gab überhaupt Lebensmittel. Doch mit dem endgültigen Zusammenbruch des Sowjetreichs blies der neue, kapitalistische Wind durch die graugewordenen ehemaligen Sowjetrepubliken.

Das erste Einkaufsparadies des unabhängigen Kasachstan

Das Unternehmen Migros Türk gründete im Oktober 1997 zusammen mit dem türkischen Baukonzern Enka das Unternehmen Ramenka, um unter dem Label Ramstore den postsowjetischen Einzelhandelsmarkt zu erobern. Der erste Supermarkt unter der Marke Ramstore eröffnete noch im selben Jahr in Russland. Und am 29. Juni 1998 wurde in der Republik Kasachstan die GmbH „Ramstore Kasachstan“ eingetragen. Es war dem Präsidenten der Republik Kasachstan Nursultan Nasarbajew selbst vorbehalten, am 14. Mai 1999 den ersten Supermarkt des nun unabhängigen Kasachstans „Ramstore-Samal“ in Almaty persönlich zu eröffnen.

Dabei war Ramstore-Samal viel mehr als ein Supermarkt. Es war seinerzeit als multifunktionaler Unterhaltungskomplex geplant, also Supermärkte, Boutiquen, ein Kino, Schnellrestaurants, die vermutlich erste Mall des noch jungen Landes. Eine noch völlig neue, unbekannte und nach dem freien Westen duftende Konsumwelt. Noch heute erzählen sich Menschen begeistert die Geschichten von ihrem ersten Besuch bei Ramstore-Samal in Almaty. Die Geschichten klingen wie aus einer fernen, weit zurückliegenden Vergangenheit. Doch diejenigen, die dabei waren, sind immer noch jung, die Ereignisse gerade einmal etwas mehr als 20 Jahre her.

Konkurrenz durch Magnum

Mitte 2011 besaß Ramstore Kasachstan 23 Geschäfte, davon 12 in Almaty und 5 in Nur-Sultan. Neben Russland und Kasachstan expandierte die Marke ebenso nach Kirgisistan, Aserbaidschan, Bulgarien und Nordmazedonien. Doch der Stern der Marke sank ähnlich schnell, wie er aufgestiegen ist. Am 14. September 2007 eröffnete ebenfalls in Almaty der erste Supermarkt der neuen Marke Magnum Cash & Carry. Dieses neue kasachische Unternehmen wuchs noch schneller und baute seine Marktmacht auf dem kasachischen Einzelhandelsmarkt radikal aus.

Auch andere Supermarktketten drängten inzwischen nach Kasachstan, manche mehr, andere weniger erfolgreich. Bei Migros Türk war die Lage jedoch klar, der Konzern wurde 2015 komplett, mitsamt allen Tochtergesellschaften, an die Anadolu-Gruppe mit Sitz in Istanbul veräußert. Dort sah man offensichtlich im weiteren Verlauf keine Zukunft mehr für die Marke Ramstore. Bis Ende des Jahres 2020 wurden sämtliche kasachischen Ramstore-Märkte geschlossen und gingen in zahlreichen Fällen an den ehemaligen Konkurrenten Magnum Cash & Carry über, inklusive des allerersten Marktes in Almaty, Ramstore-Samal.

Ramstore lebt – allerdings ohne Supermarkt

Auch sämtliche anderen Ramstore-Märkte im übrigen postsowjetischen Raum verschwanden inzwischen, wurden verkauft, umbenannt oder gingen in anderen Gesellschaften auf. Doch Ramstore ist noch nicht verschwunden. Die Ramstore-Mall, ein Einkaufszentrum in der nordmazedonischen Hauptstadt Skopje, trägt bis heute diesen Namen. Das ehemalige Ramstore-Samal in Almaty wurde im Jahr 2017 vollständig rekonstruiert und umstrukturiert und eröffnete als Einkaufszentrum unter dem Namen „Ramstore All In“ wieder seine Türen, wenn auch ohne den namensgebenden Supermarkt selbst.

In der Schweiz ist die Migros heute ein Verbund aus fast 2,3 Millionen Genossenschaftern. Die Marktmacht dort hat allerdings die Coop als Genossenschaft mit rund 2,5 Millionen Mitgliedern übernommen. An das Einkaufen im Supermarkt haben sich die Menschen in den ehemaligen Sowjetrepubliken inzwischen gewöhnt. Und trotzdem kann man sie hier und da immer noch finden. Kleine Läden zur Deckung der nötigsten Grundversorgung, unabhängig von internationalen Großkonzernen und mit einer älteren Frau in weißer Schürze und Häubchen, die einem, mal mehr und mal weniger freundlich, ein Brot, einen Eierkarton oder eine Wurst über den Tresen reicht.

Philipp Dippl

Teilen mit: