Obwohl ich schon seit 25 Jahren in Deutschland lebe, ist die Verbindung zu meiner Heimat Kasachstan nicht abgebrochen. Nicht weil dort meine Verwandten mütterlicherseits (Russlanddeutsche) und väterlicherseits (Kasachen) leben, sondern weil das Schicksal meiner großen Familie und alles, was meine Verwandten in den Kriegs- und Nachkriegsjahren erlebt haben, mich immer noch sehr beschäftigen.
In Deutschland gibt es das Stasi-Unterlagen-Archiv in Berlin. In Russland dagegen sind alle Unterlagen aus der Zeit der Gulags im ganzen Land zerstreut. Sie sind dort archiviert, wo es die unzähligen Verwaltungen, Abteilungen, Kommandanturen usw. gab. Um Einsicht in die Unterlagen zu bekommen, braucht man sehr viel Geduld und Zeit. Mein Neffe Valentin hat nach seinen langen Recherchen endlich im August dieses Jahres die Kopien von 15 Seiten der NKWD-Unterlagen meines Großvaters Johannes Mertins erhalten. Der Großvater wurde im September 1941 in die Zwangsarbeitsarmee (Trudarmee) einberufen – und nicht nur er, sondern auch mein kasachischer Großvater Mohamedzhan Ospanow. Beide wurden von ihren Ehefrauen und Kindern für Jahre getrennt.
Der erste Blick in die NKWD-Personalakte
Aus Erzählungen meines Onkels Satai weiß ich, dass es für meinen Großvater Mohamedzhan so eine große seelische Belastung war, dass er im Arbeitslager monatelang mit niemandem gesprochen hat. Die Landsmänner aus seinem Aul hatten sich schon Sorgen um seinen psychischen Zustand gemacht, und die anderen Trudarmisten, die ihn nicht kannten, hatten gedacht, dass er ein Gehörloser sei. Der Stress, die Angst waren nur einige von vielen anderen Begleitern, die das Leben eines Trudarmisten schwer machten. Sie hatten praktisch keine Rechte, mussten jeden Tag bei jedem Wetter schwer arbeiten, und es gab wenig zu essen. Im schlimmsten Fall stand am Ende dieser Strapazen als letzter Begleiter der Tod. Aber Gott/Allah sei Dank, haben meine beide Großväter diese schreckliche Zeit überstanden, und sind heil zu ihren Familien zurückgekehrt. Dieses Glück hatten leider nicht alle Trudarmisten.
Als ich zum ersten Mal die NKWD-Personalakte meines Großvaters Johannes Mertins las, hatte ich ein zwiespältiges Gefühl. Eine Mischung aus Traurigkeit und ein bisschen Dankbarkeit: Traurigkeit, weil die Tschekisten so grausam im Umgang mit meinen Verwandten gewesen waren; Dankbarkeit, weil die gleichen Tschekisten so penibel alles dokumentiert und abgeheftet hatten, dass wir viele neue Fakten aus dem Leben des Großvaters Johannes Mertins erfahren haben – angefangen von ganz privaten Sachen wie besonderen Körpermerkmalen (Narben), bis hin zu seinen Geschwistern, von denen wir keine Ahnung hatten.
50 Gramm Tabak nach vier Jahren harter Arbeit –
-das war die Belohnung der NKWD-Lagerverwaltung „Solikamstroi“, die mein Großvater am 14. März 1945 für seine ausgezeichnete Arbeitsleistung von 126 Prozent erhielt. Vier Jahre harte Arbeit als Schmied und 50 Gramm Tabak. Aber es war eine Großzügigkeit seitens der Lagerverwaltung. Dass diese 50 Gramm Tabak eine großzügige Belohnung waren, die die Überlebenschancen im Lager erhöhte, findet man in der berühmten Erzählung von Alexander Solschenizyn „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“. Der Tabak war im Gulag sehr wertvoll: Nicht nur zum Rauchen, was mein Großvater gerne tat, sondern auch als bestes Tausch- oder Zahlungsmittel. Man konnte damit eine „Dienstleistung“ bezahlen, indem man zum Beispiel einen Antrag auf Russisch schreiben ließ.
Laut den NKWD-Unterlagen meines Großvaters war Deutsch seine Muttersprache, und er hatte eine vierjährige Schulausbildung absolviert, was damals sehr gut war. Denn der Großteil der Bevölkerung in der UdSSR waren in den 1930er Jahren noch Analphabeten. Der Großvater konnte auf Deutsch lesen und schreiben, er war protestantischer Christ und hat aus der Ukraine die Familienbibel und das Gesangbuch nach Kasachstan mitgebracht, obwohl das lebensgefährlich war. Aber Russisch war nicht seine Stärke. Die Anträge, die in seinen Akten abgeheftet sind, wurden von seinen verschiedenen Kameraden in sehr gutem Russisch verfasst. Kein Wunder, denn im Gulag waren viele hochqualifizierte Spezialisten aus verschiedenen Branchen: Ingenieure, Ärzte, Wissenschaftler, Schauspieler, Lehrer usw.
Eine Bitte an Genosse Berija
Am 6. Dezember 1945 reichte mein Großvater einen Antrag (auf Russisch Raport) an den damaligen Machthaber des NKWD, Genossen Berija, ein – mit der Bitte, ihn in die Trudarmee nach Tscheljabinsk zu versetzen, weil dort seine Verwandten lebten und Tscheljabinsk etwas näher zu Kasachstan liegt. Dort lebte schließlich seine Ehefrau Elgilina mit den drei Kindern, und er wollte sie gern unterstützen. Er schrieb auch, dass die ältesten Kinder ebenfalls in der Trudarmee sind. Als er diesen Antrag stellte, wusste er noch nicht, dass seine Ehefrau Elgilina nicht mehr lebt. Laut einer Bescheinigung vom 9. November 1945 aus der Kolchose „Bolschewik“, Gebiet Schijeli, war Elgilina Mertins verstorben. Auf der Rückseite dieser Bescheinigung hat der Sachbearbeiter lakonisch aufgeschrieben: Insgesamt vier Kinder nach dem Tod ihrer Mutter: Rosa – 16 Jahre, Lidia – 9 Jahre, Arthur – 7 Jahre, Jakob – 6 Jahre.
Am 14. Januar 1946 reichte Großvater den zweiten Antrag an Genossen Berija ein, nachdem ihn die schreckliche Nachricht erreicht hatte, dass seine Ehefrau nicht mehr lebte und seine vier Kinder ohne mütterliche Obhut zu Recht kommen mussten. Am 9. April folgte der dritte Antrag, diesmal an die Lagerverwaltung. Er ahnte, dass es für die Kinder noch schlimmer kommen würde, und so geschah es dann auch recht schnell. Die örtliche Verwaltung trennte seine zwei Töchter von seinen Söhnen und steckte sie Kinder in zwei verschiedene Waisenhäuser. Das war für sie die Hölle, weil sie dort als Faschisten abgestempelt wurden. Sie bekamen entweder zu wenig oder gar kein Essen, und mussten sich von Küchenabfällen ernähren.
Der steinige Weg zurück in die neue Heimat
Fünf Monate dauerte es, bis die Genehmigung aus Moskau kam. Am 29. Mai 1946 wurde mein Großvater auf Befehl von Major Burkin von der Lagerverwaltung „Solikamstroi“ aus der Trudarmee entlassen und durfte seine Reise nach Kasachstan antreten. Für die lange Rückreise hat mein Großvater laut den Unterlagen der Lagerverwaltung Geld und Lebensmittel bekommen. Zu den Entlassungspapieren gehörte auch ein Arbeitszeugnis mit der folgenden Formulierung: „Iwan Mertins arbeitet seit dem 26. September 1941 als Schmied bei der Bauabteilung 2 von „Solikamstroi“. Die Produktionsvorgaben erfüllt er zu 120-130%; er hat keine negativen Vermerke in seinen Akten, ist anständig und diszipliniert, sowohl beruflich als auch privat“.
Der Weg zurück aus der Trudarmee nach Kasachstan war steinig. Ich vermute, dass mein Großvater in der Stadt Nischni Tagil, wo er wahrscheinlich umsteigen musste, von Kriminellen überfallen und ausgeraubt wurde. Die Kriminalität in den Nachkriegsjahren in der Sowjetunion war sehr hoch. Ein schlecht gekleideter, unterernährter, mit deutschem Akzent sprechender Reisender war für Ganoven eine leichte Beute. Die Reisepapiere, sein Geld und Lebensmittel waren weg. Er meldete sich bei der zuständigen NKWD-Abteilung der Bahnstation, erzählte aber nicht die Wahrheit.
Laut einer Eintragung in seinen Akten sagte er, dass er seine Reisedokumente (Ausweis über die Entlassung aus der Trudarmee, Passierschein für die Bahnfahrten nach Schijeli usw.) verloren hat. Es ist für mich schwer vorstellbar, dass so ein intelligenter und organisierter Mensch wie mein Großvater seine Reisepapiere, das Geld und Lebensmittel verliert. Zum Glück haben die zuständigen NKWD-Offiziere ihm geglaubt. Er bekam Ersatzdokumente, mit denen er weiter nach Schijeli reisen durfte. Ich kann mir gut vorstellen, wie seine Reise weiter ging, ohne Geld und Lebensmittel. Aber er schaffte es.
Der neue Lebensabschnitt
Am Ziel angekommen, meldete er sich zuerst bei der örtlichen NKWD-Kommandantur, danach suchte er seine vier Kinder, holte sie alle aus den zwei Waisenhäusern ab, und kurze Zeit später fing er an, als Schmied in der Kolchose zu arbeiten. Er musste seine Familie ernähren. Seine vier Kinder hatten in den Waisenhäusern so gelitten, dass es für sie ein Trauma war, das alle vier lebenslang begleiten wird.
Aber seine Familie war nicht komplett, und es würde nicht mehr so sein, wie es im September 1941 war, als er in die Trudarmee gehen musste. Seine Ehefrau lebte nicht mehr, sein ältester Sohn Alexander befand sich in einem Arbeitslager in Workuta, sein zweites Kind, Tochter Amalia (meine Mutter) war in der Trudarmee in Zheskasgan. Alexander kehrte erst im November 1952 zurück nach Shijeli. Meine Mutter Amalia heiratete in Zheskasgan meinen Vater Samat Ospanow, besuchte gelegentlich ihre Verwandten in Shijeli und lebte bis zu ihrem Tod 1994 in der Stadt Satpaev.
Ein Vorbild
Das Leben musste irgendwie weiter gehen. Der Großvater gründete seine zweite Familie. Er heiratete Klara Rapp, und aus dieser Ehe gingen vier Kinder hervor: Frieda, Olga, Wladimir und Wanda.
Bis zu seiner Erkrankung war der Großvater sehr aktiv, sowohl beruflich als auch ehrenamtlich. Beruflich, weil er in der Gegend für sein handwerkliches Können sehr bekannt war. Er konnte in seiner Werkstatt, die er neben seinem Haus eingerichtet hatte, viele Sachen herstellen, angefangen von einem Esslöffel bis hin zu einer leichten Droschke. Sein Ehrenamt bestand darin, dass er seinen Landsleuten als inoffizieller protestantischer Pfarrer zur Seite stand: Bei Taufen, Hochzeiten oder Beisetzungen. Meine Mutter sagte immer, dass ihr Vater goldene Hände hatte. Er hat meinem Vater viele Werkzeuge geschenkt, die er selbst gemacht hatte, und die damals selten im Verkauf waren: einen kurzen Handhobel, einen Hobel von einem Meter Länge, einen Beitel, feinere Stecheisen, ein großes Messer zum Schlachten und Zerlegen von Rindern, und viele andere Sachen, die mein Vater mit großer Dankbarkeit und Erinnerung an seinen Schwiegervater benutzte.
Ende 1969 wurde beim Großvater Magenkrebs diagnostiziert. Im Frühling 1970, kurz vor seinem Tod, haben meine Mutter, meine jüngste Schwester und ich ihn besucht. Ich war damals sechs Jahre alt, aber ich kann mich immer noch erinnern, wie er in seinem Bett lag, abgemagert und entkräftet. Er hat seine Hand auf meinen Kopf gelegt und mich gesegnet. Diese Erinnerung begleitet mich mein ganzes Leben lang. Der Großvater starb nach unserer Abreise im Frühling 1970 und wurde in Schijeli bestattet. Er war eine starke Persönlichkeit, ein Christ, ein Vorbild nicht nur für seine neuen Kinder, sondern auch ein Vorbild für seine Enkelkinder aller Generationen, die in Kasachstan, der Ukraine, Russland und Deutschland leben.