Der Ethnologe Jesko Schmoller (29) lebt seit Sommer 2006 in der usbekischen Hauptstadt Taschkent. Er arbeitet als Lehrkraft am Juristischen Institut. Für die DAZ wird er von nun an im Zweiwochenrhythmus von seinem Leben in der Mahalla, dem traditionellen Wohnviertel der Usbeken, berichten.
Gestern abend fing es an zu regnen. Zuerst fielen nur ein paar Tropfen auf den staubigen Boden und verschwanden sofort. Dann wurde der Regen dichter, trommelte auf das Wellblechdach und ließ die Rinde des Apfelbaums glänzen. Ein frischer Erdgeruch lag in der Luft. Inzwischen, gute zwanzig Stunden später, ist der Innenhof ein einziger Schlammparcours.
Würde ich hier in Taschkent, der Hauptstadt Usbekistans, in einem der bunkerartigen Betonklötze aus Sowjetzeiten wohnen, hätte ich von der liebenswürdigen Begegnung zwischen Regen und Natur wohl kaum etwas mitbekommen. Doch ich lebe auf einem Hof, und dieser Hof liegt mitten in einer Mahalla.
Bis vor nicht allzu langer Zeit hatte ich nicht die leiseste Ahnung, was eine Mahalla ist. Genauso wenig, wie ich wusste, dass man „Mahalla“ mit einem kehligen „h“ spricht. Jetzt weiß ich beides. Eine Mahalla ist die kleinste Verwaltungseinheit einer usbekischen Stadt und gleichzeitig das traditionelle Wohnviertel der Usbeken. Im Mikrokosmos der Mahalla hat sich eine Lebensweise erhalten, wie sie vor zweihundert Jahren nicht viel anders gewesen sein kann. Auf einem Grundstück leben in niedrigen, um einen Innenhof errichteten Lehmbauten mitunter noch drei Generationen zusammen.
Taucht ein Westler in die Welt der Mahalla ein, so kann er Wunder um Wunder schauen, vorausgesetzt, es gelingt ihm, sich in sein neues Umfeld hineinzuleben. Dass ich am richtigen Ort gelandet war, wusste ich recht schnell. Ich hatte meine usbekische Gastfamilie im Spätsommer des letzten Jahres kennen gelernt und wohnte seit zwei oder drei Tagen auf ihrem Hof. Unterhaltungen waren entstanden und – aufgrund meiner mäßigen Usbekischkenntnisse – wieder versiegt. An jenem Abend saßen wir wie gewöhnlich noch nach dem Essen beisammen. Die Hitze des Tages war zum weit geöffneten Himmel aufgestiegen, an dem sich das nächtliche Schauspiel des Kosmos vollzog. In den vom Melonenwasser klebrigen Fingern hielt ich die halbgefüllte Teetasse, während in meinem Mund gerade eine pralle Traube unter dem Druck der Zähne platzte. Da breitete sich plötzlich und ohne Vorwarnung in meinem Innern ein Lächeln aus, das golden bis in die Fingerspitzen und Zehen flutete, um sich schließlich über mein Gesicht der Außenwelt zu verkünden. Ich fühlte meine Präsenz in diesem Augenblick, an diesem Ort mit einer herrlichen Intensität, alle Schleier von schweren Erinnerungen und Zukunftssorgen zerreißend. Denn ich war – was ich mit einem Mal in all seiner kristallenen Klarheit erkannte – hier. Hier, bei meiner neuen, usbekischen Familie. Hier, in der Mahalla.
Von Jesko Schmoller
16/02/07