Der Ethnologe Jesko Schmoller (29) lebt seit Sommer 2006 in der usbekischen Hauptstadt Taschkent. In seinem zweiten Bericht über das Leben in der Mahalla betrachtet er einheimische Redewendungen.

Wie schnell können Redewendungen veralten. So dachte ich mir, nachdem ich neulich abend in einem der diversen Bücherstapel in meinem Zimmer einen interessanten Fund gemacht hatte: Den „Deutsch-Usbekischen Sprachführer“, herausgegeben in Taschkent im Jahre 1976. Auf Seite vier sieht man auf einem Flughafen ein augenscheinlich deutsches Touristenpaar, am Koffer des Mannes hängt ein Schildchen mit der Aufschrift „Berlin – Taschkent“, das sich mit einem jungen usbekischen Ehepaar, durch die traditionellen Gewänder eindeutig zu erkennen, in kameradschaftlichem Überschwang die Hände schüttelt. Daneben der Satz: „Gestatten Sie mir, Sie im Namen unseres Kollektivs zu begrüßen!“ Begeistert blätterte ich zur nächsten Seite weiter, wo dann auch gleich die Trinksprüche folgten: „Wollen wir einander helfen!“ Lag es an dem Wodka, den unsere deutsch-usbekischen Freunde jetzt wahrscheinlich gemeinsam genossen, oder warum wirkten die Sätze auf einmal so seltsam verdreht? „Es möge die Einheit und die internationale Solidarität der Werktätigen im Kampfe für den Frieden sein!“ Soso.

Ich beschloss, den Satz einmal an ein paar Usbeken des Jahres 2007 auszuprobieren. Nebenan hatten sich meine Gastbrüder, der 14-jährige Alischer und der achtjährige Eljor schon zur Nachtruhe gebettet. Als würde ich ihnen ihre Gute-Nacht-Geschichte vorlesen, nahm ich auf der Bettkante Platz und las, laut und auf Usbekisch, den Spruch. „So sei es!“, warfen mir zwei kleine Stimmen, müde aber immerhin im Einklang, reflexartig zurück. Verblüffung meinerseits. Gelächter hatte ich erwartet oder zumindest verständnislose Blicke. Ich stand auf und ging – mein Buch in der Hand – über den Hof zum Wohnzimmer, wo der Rest meiner Familie Fernsehen schaute. „Sind Sie Komsomolze?“, fragte ich vergnügt in die Runde. „Nein“, antwortete meine Gastmutter Muhabbad mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte ich mich gerade erkundigt, ob noch Tee da wäre. „Früher waren wir Komsomolzen, aber jetzt nicht mehr.“ Damit wandte sie sich wieder den Geschehnissen auf dem Bildschirm zu.

Mit hängenden Schultern zog ich mich in die Küche zurück. Die Redewendungen mochten ja nicht mehr aktuell sein, aber allem Anschein nach war ich der Einzige, der sie ob ihres ideologischen Gewichts als skurril empfand. Wäre ich als guter Sowjetbürger in Usbekistan aufgewachsen, würde ich wahrscheinlich genauso reagieren. In diesem Bewusstsein wandte ich mich wieder meiner Lektüre zu und plötzlich schien mir die Auskunft auf die Frage „Was ist die Pionierorganisation?“ ganz natürlich, in ihrer alle Altersklassen einbeziehenden Hingabe an die kommunistische Idee gar begrüßenswert. Da stand: „Die Pionierorganisation ist eine politische Massenorganisation für Kinder.“

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Komsomol war die Jugendorganisation der KPdSU. Das Wort Komsomol ist ein Akronym aus „Wsessojusny Leninski Kommunistitscheski Sojus Molodjoschi“ (Âñåñîþçíûé ëåíèíñêèé êîììóíèñòè÷åñêèé ñîþç ìîëîä¸æè Aussprache), auf deutsch „Leninscher Kommaunistischer Jugendverband der Sowjetunion”. Die sowjetische Massenorganisation wurde am 29. Oktober 1918 gegründet und hatte damals 22.000 Mitglieder. In den 1970er und 1980er Jahren waren etwa 40 Millionen Menschen im Alter von 14 bis 28 Jahren Komsomolzen, wobei die Funktionäre der Gruppe, sogenannte Aktivisten, meist deutlich älter waren. Nach dem gescheiterten Augustputsch konservativer kommunistischer Militärs gegen Michail Gorbatschow vom 19. August 1991 wurde der Komsomol verboten. (wikipedia.org)

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Von Jesko Schmoller

02/03/07

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