Wir passieren Rudnyj und fahren nach links nach Karatomary ab. Während wir die von Frost bedeckte Schleuse des Stausees überqueren, argumentiere ich scherzhaft: Also, mich würde ja interessieren, wenn ich 95 Jahre alt wäre – würde dann auch jemand für ein Interview vorbeikommen? Würde ich überhaupt so alt werden? Obwohl, vielleicht sollte ich für alle Fälle interessante Geschichten parat haben.

Schließlich Beregowoje, eine hübsche Siedlung für anderthalbtausend Seelen. Und hier ein Haus, das den anderen ähnelt, mit weißgetünchten Mauern.

„So, du bist also Deutscher?“ Bereits im Flur interessiert sich die magere, freche alte Frau mit roter Baskenmütze, – „nu, komm!“

Und schon hastet die Tochter unserer Heldin, Nadezhda, an die Küchenzeile. Auf dem Sofa neben mir schläft eine träge Katze und ich lausche jedem Wort von Anna Heinrichowna…

„Nehmt nicht zu viel mit“

Anna Sauer wurde am 23. Oktober 1926 in dem Dorf Norka (alias Weingard, ASSR der Wolgadeutschen) nahe Saratow in der Familie von Heinrich Heinrichowitsch und Katerina Adamowna, geborene Kajzer, geboren. So trafen ein Witwer und eine Witwe mit jeweils drei Kindern zusammen, und in ihrer Ehe kamen noch einmal vier dazu, so dass sie zehn waren, Halbgeschwister und Verwandte.

„Im Dorf gab es eine lutherische Kirche“, erinnert sich Anna Heinrichowna. „Meine Mutter hat dort gesungen. Ich erinnere mich, dass sich dort Tabakplantagen erstreckten.“
Anfang September 1941 wurde den Einwohnern von Norka gesagt: „Macht euch bald für den Weg bereit, ihr werdet ausgesiedelt. Ja, nehmt nicht viel mit, du wirst nicht viel wegtragen können!“

Heinrich Heinrichowitsch übergab gewissenhaft (aber nicht freiwillig) zweieinhalb Zentner Gerste, die der Familie verblieben waren. Anna, die fünf Klassen beendet hatte, wurde mit ihrer älteren Schwester Marija, dem Bruder Aleksandr und ihren Eltern ins Unbekannte geschickt. Genauso wie auch der Rest ihrer erwachsenen Brüder und Schwestern.

„Wir haben geweint, unser gesamtes Dorf hat geweint“, erinnert sich Anna Heinrichowna und gestikuliert mit ihren knorrigen, trockenen Händen. „Wir hatten eine Kuh, in diesen Regionen gibt es große Kühe, nicht so wie hier. Und das ist sie, unterernährt, läuft herum und brüllt. Alle Kühe im Dorf brüllen – und mit ihnen auch wir… Und so fuhr der Zug los – und das war’s; wenn es einmal losging, dann gab es kein Zurück mehr! Und wenn einer zögerte, dann hatte er den Soldatensäbel sofort im Arsch…“

Das Klappern der Räder und die „Kieselchen“, die zur Erlösung wurden

Bereits auf dem Gebiet des heutigen Kasachstan wurden an jeder Station mehrere Familien aus der Masse ausgesetzt. Die örtlichen Kasachen versuchten zu helfen, wo immer sie konnten, und sie warfen Kurt direkt in die offenen Fensterchen der Viehwaggons. Die Deutschen waren zunächst ratlos: Warum werfen Sie Kieselsteinchen nach uns?

„Sie haben uns damals nicht verhungern lassen“, – erzählt Anna Heinrichowna, „und so drücke ich heute jedem beliebigen Kasachen die Hand!“

Sie erreichten das Dorf Bogorodskoje, welches sich im Gebiet Kostanaj befindet. Hier, auf der anderen Seite des Flusses Tobol im Regionalzentrum befand sich die Spezialkommandantur des NKWD (es war für alle die „Kommandanturka“), aber Anna blieb nicht für lange in Kasachstan.

„Wie können Sie sie nur wegschicken?“, zeterte die Mutter Katerina Adamowna. „Das Mädchen ist noch keine sechzehn Jahre alt!“

„Empöre dich nicht, Mütterchen“, entgegneten die Leute mit den roten Schirmmützen. Sie wird zusammen mit ihrer Schwester und ihrem Bruder sein, damit sie zusammen nicht verlorengehen.

Die Wagenräder ratterten wieder. Jetzt bewegte sich der Zug, in den Anna und Marusja geschoben wurden, nach Nordwesten, auf den Nebenfluss der Wolga, die Kama, der udmurtischen Taiga zu. Ihr Bruder Aleksandr wurde später geschickt und in Tscheljabinsk zurückgelassen.

Die Hölle der Kama

Die Schwestern wurden irgendwo im Gebiet Perm ausgesetzt, fast am Ufer ebenjener Kama. Bis zum Lager mussten sie noch zwei Kilometer gehen.

„In unserer Baracke waren ungefähr zweihundert Personen, dort verteilten sich die gefangenen Frauen auf dreistöckigen Kojen. Überall waren Läuse und Kakerlaken. Abends nach der Arbeit gab es ein furchtbares Geheul, denn es gab Kranke und Schwangere. Für mich und Marusja fand sich kein Platz – wir lagen ganz am Rande des Durchgangs.

Jeden Morgen wurden die Zwangsarbeiter von einem Inspektor, einem gewissen Woronin, aus den Betten geschmissen und nach einem miserablen Frühstück in die Sektionen eingeteilt. Ringsherum stand ein riesiger uralter Wald. „Gott alleine weiß, wie lange sie gewachsen sind, diese Schönheiten“, dachte Anna, während sie aufblickte.

„Ich konnte Bäume sägen – ein Mann könnte nicht so sägen. Wir haben gesägt und aufgehäuft. Wenn es kalt war, haben wir ein Feuerchen gemacht und sind dorthin gegangen, um uns aufzuwärmen. Und wir haben uns so sehr erschöpft, dass es uns der Rücken selbst jetzt noch wissen lässt. Und du, Igor, schreibe – lass sie lesen, wie wir in der Taiga geschuftet haben. Wie wir abends gebrüllt haben, wenn wir Nachrichten von zu Hause lasen. Wie wir gehungert haben, wie wir dem Heulen der Wölfe zugehört haben, wie wir die Läuse zerquetscht haben… Hast du jemals Läuse an dir selbst zerquetscht?“

Später wurden mir noch ein paar Geschichten mitgeteilt, für die meine Gesprächspartnerin nicht genug mentale Kraft aufbringen konnte: In einer wurden Anna und ihre Freunde wegen irgendeines Vergehens in eine Strafzelle geworfen – einen Schuppen, sie waren paarweise mit Seilen Rücken an Rücken aneinandergebunden. In einer anderen streckt Anna ihren Arm in einen Sumpf und versucht, ein ertrinkendes Mädchen, so wie sie selbst eines war, zu retten. Sie schrie: „Hilf mir!“ und versank langsam in dem Sumpf, aber es war unmöglich, sie zu erreichen… Dieser Schrei erstarrte für immer in Annas Herzen.

Niemand im Lager feierte Weihnachten oder Silvester – man war schon glücklich, wenn man den eigenen Geburtstag nicht vergaß. Aber Anna Heinrichowna vergaß nie, zu Gott zu beten. Und ich bemerke, wie die Lippen der 95-jährigen Frau flüstern: „Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name…“

„Haben Sie gehofft“, frage ich, „dass sich alles ändern würde, dass Sie zurückkehren würden?“

Die Antwort: „Nein, zu dieser Zeit dachte ich, dass ich alles verloren hätte.“

„Wir werden dich nicht mit dieser Deutschen verheiraten“

Aber der Krieg war vorbei, und alles normalisierte sich allmählich. 1945 kehrten die Schwestern zu den Eltern nach Kasachstan zurück, in den Taranowsker Kreis im Gebiet Kostanaj. Anna hat auf einem Bauernhof angeheuert, und so arbeitet sie fast ihr ganzes Leben lang mit Kühen. Im Jahr 1977 hat sie sogar eine Auszeichnung für den Sieg im sozialistischen Wettkampf erhalten.

In den Nachkriegsjahren wurde Anna (sie war gerade Anfang zwanzig) in eine Dorfschule eingeladen – es gab damals nicht genug Schulpersonal, und sie, die gerade mal fünf Klassen abgeschlossen hatte, unterrichtete nun die Jungen und Mädchen. Und hier, in dem Dorf Scharakul, lernte sie ihren zukünftigen Ehemann Maksim Wdowin kennen. Er selbst war ein Einheimischer, obwohl er das Blut der Donkosaken hatte.

„Ich spürte“, gibt Enkelin Oksana Sauer zu, „dass meine Großmutter zum Großvater, der vier Jahre jünger ist, gleich eine Art himmlische Bestimmung spürte.“

Allerdings gibt es da noch eine andere Geschichte. So gingen Anna und Maksim, sich ansehend und sich an den Händen haltend, zum Standesamt des Landkreises. Und dort sagt man ihnen: „Wir werden dich, Maksim, nicht mit dieser Deutschen verheiraten.“

„Wie bitte?“ – „So ist es. Wir werden dies nicht registrieren, das ist alles. Du bist ein freier Mensch, und sie ist eine Sondersiedlerin.“ Der kecke Kosake warf als Antwort nur zurück: „Ach, dann geh zur Hölle mit deinem Stück Papier! Für mich ist Anka auch ohne es das Liebste!“

Als im Jahr 1954 Tochter Nadja geboren wurde, kam Maksim Kuzmitsch zurück in dieses Büro: „Und was nun? Was werden wir jetzt tun?“

Hmm, nun, der „Schreiber“ kratzte sich am Hinterkopf, das Kind braucht den Nachnamen des Vaters… „Es musste eine Heiratsurkunde ausgestellt werden: wenn es Kinder gibt, dann bedeutet das, dass es eine Familie gibt, und wenn das so ist… Obwohl, mit diesem deutschen Mädel, mit diesem ehemaligen Sträfling? Nun, dann ist es eben so, und so sei es…“

Siebenundfünfzig Jahre füreinander da

Sie lebten 57 Jahre zusammen, bekamen noch einen Sohn, Wasilij, und eine Tochter, Wera.
„Ihre Beziehung“, erzählt die Enkelin Oksana, „hatte ich immer vor Augen, und ich habe mein Leben darauf aufgebaut: Mein Großvater und meine Großmutter sind ein gutes Beispiel dafür, wie man füreinander leben kann. Ich dachte mir, wenn es mit einer Person nicht so funktionieren würde, wie bei ihnen, dann wäre es besser, nicht weiterzumachen.“
Anna Wdowina, das bestätigen ihre Angehörigen, war immer unter Menschen, hat sich an allem beteiligt und alle mitgerissen: und so trifft sie sich zum Beispiel mit ihren Freundinnen, um zu plaudern und deutsche Lieder zu singen.

„Als ich noch ein kleines Mädchen war“, erinnert sich Oksana, „habe ich es direkt als Sakrament wahrgenommen, obwohl ich ernsthaft glaubte, dass Erwachsene immer eine andere Sprache sprechen! Ich gestehe, seitdem sind mir selbst Sprachen leichtgefallen. Irgendwann bin ich als Erwachsene einmal nach Moldawien gefahren und habe dort fast alles verstanden…“

Anna Heinrichowna Wdowina liest bis zum heutigen Tage fließend Deutsch. Nun, in Wahrheit gibt es wenig zu lesen: Das Internet als Phänomen existiert für diese Generation nicht, und Bücher – woher sollen denn deutsche Bücher in das Dorf kommen?

Einmal wurde unsere Heldin, als sie schon nicht mehr jung war, zufällig zu einer ehrenvollen Hebamme: Im Dorf bekam eine Kasachin ihr Kind, und Anna Wdowina wurde gebeten, die Nabelschnur zu durchtrennen. Der geborene Junge, Bauyrzhan, wurde später ein Freund der Familie, und als er heranwuchs und heranreifte, verabschiedete ihn seine „Patentante“ sogar zur Armee und erhielt oft seine herzlichen Briefe von dort.

Im Jahr 1997 luden ihre Schwestern – Marija (ebejene Marusja) und Natalja, die bereits seit fünf Jahren in Deutschland lebte, Anna ein, dortzubleiben. Aber im Land der Vorfahren von Anna Heinrichowna erschien alles fremd. Und der Großvater bekräftigte: Wir werden nirgendwo hingehen. Seit 12 Jahren ist er bereits verstorben – doch Anna Wdowina bleibt bei ihrer Entscheidung.

Die Wände rochen leicht nach Rauch – manchmal scheint mir, als wäre dies der heimeligste Geruch der Welt.

„Und Sie kommen auf jeden Fall wieder vorbei“, begleitet mich, sich an ihren Krücken festhaltend, Anna Heinrichowna. „Ich habe manchmal niemanden zum Reden. Besonders auf Deutsch.“

***

Worum ging es in dieser Geschichte? Um Beharrlichkeit. Über den Glauben. Über Treue. Ein ganzes Leben lässt sich natürlich nicht in einem einzelnen Zeitungsartikel abbilden – selbst wenn wir ein paar Geschichten mit eingepflogen haben.

Übrigens, zu den Geschichten: nun, also, wenn ich einmal 95 Jahre alt werden sollte, und Journalisten zu mir kommen – dann werde ich erzählen, wie ich einmal eine erstaunlich hartnäckige Frau interviewt habe. Ja, das Schicksal hätte eine andere aus ihr machen können – gerade die einfach grausame Jugendzeit von Anna Sauer war die Ära der Harte, der Geduldigen und der Starken.

Igor Niderer

Übersetzung: Philipp Dippl

Teilen mit: