Nur wenige Monate nach der so genannten „Tulpenrevolution“ in Kirgisien, die zur Absetzung der Regierung führte, erschüttert eine neue politische Krise das arme Gebirgsland. Demonstranten werfen dem Premierminister Verbindungen zur organisierten Kriminalität sowie Mitschuld an der Ermordung eines Abgeordneten vor und verlangen seinen Rücktritt.

Bei einer Geiselnahme in einem Gefängnis nahe der kirgisischen Hauptstadt Bischkek ist in der vergangenen Woche ein Parlamentsabgeordneter der zentralasiatischen Republik getötet worden. Wie die Justizbehörden des Landes weiter mitteilten, kamen bei einer Schießerei im Moldawanowka-Gefängnis neben dem Abgeordneten Timitschbek Akmatbajew drei weitere Menschen ums Leben; mehrere weitere wurden verletzt.

Als Michail Saakaschwili im November 2003 mit einer Rose in der Hand den friedlichen Umsturz in Georgien anführte, schaute nicht nur der Westen wie gebannt zu. Das Volk des kleinen Kaukasusstaates ging, von grenzenloser Machtgier und Bereicherung der herrschenden Eliten erzürnt, und – wie sich später herausstellte – von amerikanischen Geldern großzügig unterstützt, für Gerechtigkeit und bessere Lebensbedingungen auf die Straße. Ihrem Beispiel folgten nach den unfairen Präsidentschaftswahlen im Herbst 2004 auch die Bürger der Ukraine. Orange wurde zur Signalfarbe ihres friedlichen Protests. Doch mittlerweile welken die revolutionären Blütenträume am Ostrand Europas: In Georgien sank die Zustimmung zum Kurs des selbstherrlichen Präsidenten Michail Saakaschwili beträchtlich, in der Ukraine wurde bereits das Kabinett der Reformministerpräsidentin Julia Timoschenko entlassen, und nun werden auch aus Kirgisien, Unruhen gemeldet. Nur wenige Monate nach der so genannten „Tulpenrevolution“, die zur Absetzung der Regierung führte, erschüttert eine neue politische Krise das arme Gebirgsland. Demonstranten werfen dem neugewählten Premierminister Felix Kulow Verbindungen zur organisierten Kriminalität sowie Mitschuld an der Ermordung eines Abgeordneten vor und verlangen seinen Rücktritt.

Auf dem zentralen Platz der Hauptstadt hatten sich am Wochenende mehrere Hundert Demonstranten versammelt und forderten lautstark den sofortigen Rücktritt Kulows. Dieser wurde von den Protestierenden als mitschuldig an der Ermordung des Parlamentsmitglieds Timitschbek Akmatbajew betrachtet. Akmatbajew, gleichzeitig Vorsitzender des Parlamentskomitees für Justiz und Verteidigung, war beim Schlichten einer Gefangenenrevolte am vergangenen Donnerstag unter mysteriösen Umständen erschossen worden.

„Über meine Verwicklung in die Ermordung wurden die absurdesten Vorwürfe geäußert“, verteidigte sich Kulow in einer eilig einberufenen Pressekonferenz. In einer solchen Situation sei das Wichtigste, den Leuten auf dem Platz klar zu machen, dass ihr Handeln falsch ist. Seinen politischen Gegnern warf er vor, nach Motiven für eine Destabilisierung des Landes zu suchen. „Jemand will das Boot zum Sinken bringen, um zu zeigen, dass der Staat keine Autorität besitzt. Doch diese Menschen irren sich gewaltig.“ Der derzeitigen politischen Krise waren Unruhen in zwei Strafvollzugsanstalten vorangegangen. In einem Hochsicherheitsgefängnis nahe der Hauptstadt Bischkek hatten die vielfach an Tuberkulose erkrankten Insassen am 18.Oktober gewaltsam gegen die miserablen Haftbedingungen, schlechte Verpflegung und unzureichende medizinische Versorgung protestiert. Als im Straflager Moldawanowka ebenfalls ein Aufstand ausbrach, reiste Akmatbajew zu Gesprächen mit den Häftlingen und der Inspektion der Haftbedingungen an. Einer seiner Leibwächter zog während der Verhandlungen eine Pistole, in der Folge kam es zum Schusswechsel. Eine andere Version der Vorgänge im Gefängnis hat Rysbek Akmatbajew, der Bruder des ermordeten Parlamentsmitglieds, parat. „Dieses Verbrechen wurde gründlich vorbereitet. Die Leute, die meinen Bruder erschossen, erwarteten ihn schon“, erklärte Akmatbajew, der sich unter den Demonstranten in Bischkek befindet. Akmatbajew verweist auf angebliche Verbindungen Kulows zur Unterwelt bis ins Straflager Moldawanowka: „Es handelt sich um eine hundertprozentige, einwandfreie Information: Hinter dem Mord steht Kulow.“ Alles Weitere werde vor Gericht verhandelt, so Akmatbajew, ohne konkrete Beweise für seine Behauptungen zu nennen. Mit diesen Anschuldigungen flammen nun die Diskussionen um die Verstrickung von Politik und kriminellen Strukturen in Kirgisien erneut auf. Experten sprechen von unklaren Grenzen zwischen politischem Einfluss und illegalen Machenschaften. Bereits in die Vorgänge während der Märzrevolution sei die Unterwelt in großem Ausmaß involviert gewesen, berichtet Tolekan Ismailowa von der Menschenrechtsgruppe „Bürger gegen Korruption.“ Parallel zu den politischen Umwälzungen habe nun auch in der kriminellen Szene eine Neuaufteilung der Einflusssphären begonnen. Kulow selbst hat inzwischen sein Schicksal in die Hände des Parlaments und des Präsidenten gelegt. Sollten beide Instanzen seinen Rücktritt für begründet halten, so werde er keinen weiteren Einwand dagegen haben, deutete er seinen Rückzug an. Präsident Kurmanbek Bakijew stellte sich hinter den Premier und rief zu Besonnenheit auf. Die Regierung werde keine Verletzung der konstitutionellen Ordnung zulassen, so Bakijew. Derweil bereiten sich die Protestierenden auf eine längere Belagerung der Hauptstadt vor. Auf dem zentralen Alatoo-Platz wurden Jurten und Zelte aufgestellt. Freiwillige kochen in großen Kesseln warme Mahlzeiten. Akmatbajew bleibt standhaft: „Unser Ziel ist der Rücktritt Kulows. Wir bleiben so lange, bis wir das erreicht haben.“

27/10/05

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