In Deutschland ist das Buch „Das Schicksal. Der lange Weg nach Solothurn-Wittmann und zurück“ von Valentina Sommer veröffentlicht worden. In ihm berichtet die Autorin über das schwere Los ihrer Landsleute, der Russlanddeutschen, die während des Deutsch-Sowjetischen Krieges (1941-1945) aus dem Wolgagebiet gewaltsam deportiert worden sind. Valentina Sommer widmet ihre Erforschungen dem 70. Jahrestag der Deportation der Wolgadeutschen nach Kasachstan.
Frau Sommer, in diesem Jahr erschien Ihr Buch „Das Schicksal, der lange Weg nach Solothurn-Wittmann und zurück“. Sie schildern das schwere Schicksal ihrer Vorfahren, der Wolgadeutschen, zur Zeit der Deportation im Zweiten Weltkrieg in Russland. Wie kam Ihnen die Idee, darüber ein Buch zu schreiben?
Das Jahr 2011 ist für die Russlanddeutschen ein trauriges Gedenkjahr. Der 28. August 1941 ist der Tag, an dem alle Russlanddeutschen gemäß dem Erlass der Stalinregierung nach Sibirien, Zentralasien und Kasachstan deportiert wurden. Nach der Vertreibung aus ihren Heimatorten konnten die Deutschen in der Mehrheit nicht mehr an die Wolga zurückkehren. Die nachkommende Generation wächst in der Verbannung, in der Fremde auf.
Die Behauptung, dass das Leben die schönsten und spannendsten Geschichten schreibt, ist zwar wahr. Das Leben schreibt aber auch traurige, bittere und grausame Geschichten. Es sind dies die Schicksale unserer Eltern, Großeltern, ja unserer Vorfahren schlechthin, die ich in meinem Buch beschreibe. Schuldlos bestraft, erniedrigt, vertrieben, wurden die Deutschen über Russland verstreut, unter die Kommandantur gesetzt, zur Zwangsarbeit verpflichtet. Meine Vorfahren, meine Eltern und Großeltern haben das schwere Schicksal, den langen Weg von Deutschland bis an die Wolga sowie die Zeiten der Deportation während des Deutsch-Sowjetischen Krieges in Russland durchgemacht.
In unserer Familie war die Vergangenheit immer präsent. Als kleines Mädchen hörte ich sehr oft Geschichten über die Verfolgung der Deutschen von meiner Mutter und meiner Großmutter. Sie erzählten, wie die Männer im Dorf verhaftet wurden, nur weil sie gläubige Menschen waren, ein Vaterunser gebetet hatten, oder sich erlaubt hatten in ihrer Muttersprache in der Öffentlichkeit zu reden. Die bei Nacht und Nebel ohne Grund Verhafteten, verschwanden dann für immer. Das Schicksal der zurückgebliebenen Familien mit vielen Kindern wurde dadurch noch bitterer, noch schwerer. Nur der Glaube an Gott, nur das Gebet erhielt die Menschen aufrecht, gab ihnen die Kraft, durchzustehen sowie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Somit bot die Familie die einzige Möglichkeit zur Bewahrung der deutschen Sprache, der deutschen Kultur und vor allem des Glaubens. Keine Gefahr seitens der Sowjetpropaganda und keine Verhaftungen konnten diesen Prozess der Weitergabe der deutschen Sitten und Bräuche zurückhalten.
Nachdem die Kommandantur 1956 aufgehoben wurde, stellte meine Großmutter in den 60er Jahren, in den drei Deportationsorten in Kasachstan, wo sie gelebt hatte, auf den Friedhöfen drei Meter hohe Kreuze auf. Die aus Stahl zusammengeschweißten Kreuze wurden tief in die Erde einbetoniert und mit Gebeten eingeweiht. Diese drei Kreuze stehen auch heute noch, wie ein Schrei zum Himmel, als ein Andenken an alle repressierten, erschossenen, in der Trudarmee ums Leben gekommenen, verhungerten und vernichteten Deutschen. Das sind die drei Kreuze für diejenigen, denen die Kräfte nicht ausgereicht hatten, das grausame Schicksal durchzustehen, die am Rande der vielen Wege in Russland und Kasachstan ohne ein Vaterunser in aller Eile begraben wurden und einen einfachen Stein statt ein Kreuz auf ihr Grab gelegt bekamen. Die drei Kreuze sind ein Symbol, eine Mahnung für die künftigen Generationen, die aus der grausamen Vergangenheit lernen sollen, damit die Greuel sich nicht noch einmal wiederholen.
Es war, als hätte meine Großmutter geahnt, dass wir die letzte Ruhestätte unserer Vorfahren werden zurücklassen müssen und sie nicht mitnehmen können. Der stumme Ausdruck des inneren Protestes meiner Oma gegen die Politik der Stalinregierung wurde mir erst im reiferen Alter bewusst. Doch die Menschen, die unsere bessere Zukunft mit ihrem Leben bezahlt hatten sind nicht in Vergessenheit geraten. Sie bleiben in den Erinnerungen unserer Landsleute auf immer lebendig. Die Erinnerungen an die Vergangenheit, das Interesse meiner Verwandten und Landsleute für die Geschichte der Wolgadeutschen bewogen mich, ihre Schicksale niederzuschreiben. Das Buch ist den Zurückgebliebenen, Verstorbenen, in ganz Russland vom Schwarzen Meer bis Sibirien und Kasachstan Zerstreuten, den zum Teil vergessenen, zerstörten und verschwundenen Friedhöfen und namenlos am Rande der Wander- und Kriegswege Beerdigten gewidmet.
Was war das Interessante für Sie im Laufe des Schreibens?
Die Idee, ein Buch über die Geschichte meiner Vorfahren zu schreiben, hatte ich schon lange. Ich bin sehr froh, dass ich noch die Möglichkeit hatte, persönlich mit den wenigen lebenden Zeitzeugen zu sprechen. Die Erzählungen im Buch sind die wahrheitsgetreuen Schicksale dieser Leute. Leider leben viele von ihnen jetzt schon nicht mehr. Es geht ja auch nicht nur um Lebensgeschichten, es ist auch viel Archivmaterial dabei. Sehr interessant war für mich selbst die Entdeckung der Passagierlisten meiner Vorfahren in den Archivbüchern, die ab Lübeck mit dem Schiff unter Kapitän Franz Nikolaus Schröder am 15. September 1766 auf der Ostsee aus Deutschland nach St. Petersburg ausgewandert sind. Natürlich braucht es Zeit und Geduld, bis man die nötigen Informationen findet. Und das war manchmal nicht gerade leicht. Die Berührung mit der Geschichte des 18. Jahrhunderts und die Arbeit mit den Archivmaterialien haben mich sehr fasziniert.
Ihr Buch ist ein Beitrag zur Geschichte der Wolgadeutschen. Es ist dem 70. Jahrestag der Vertreibung der Russlanddeutschen gewidmet. Erzählen Sie bitte über Ihr eigenes Schicksal im Kontext der Geschichte ihrer Landsleute? Wie verlief Ihr Leben im Rahmen der Geschichte der Russlanddeutschen in der ehemaligen Sowjetunion?
Ich gehöre zur Generation der Nachkriegskinder, die in Kasachstan in der Zeit der Kommandantur auf die Welt gekommen und aufgewachsen sind. Die politische Verfolgung der deutschen Minderheit in Russland bekamen wir schon in der frühen Kindheit zu spüren. Die Begriffe Deutscher und Faschist waren nach dem Deutsch-Sowjetischen Krieg in Russland identisch. Nach der Aufhebung der Kommandantur wurde es den Deutschen wieder erlaubt zu studieren. Nach einem pädagogischen Studium war ich 25 Jahre lang als Deutschlehrerin in Kasachstan tätig. 1991 kam ich mit meiner Familie in die Heimat unserer Vorfahren, nach Deutschland, zurück. Nach der Umschulung zur Erzieherin arbeitete ich in verschiedenen Einrichtungen für Kinder. Jetzt habe ich Zeit zum Schreiben.
Zu welchem Genre gehört, Ihrer Meinung nach, Ihr Buch?
Dies ist für mich nicht so einfach zu definieren. Es ist halt die Geschichte des Dorfes Wittmann an der Wolga mit vielen Archivmaterialien, verbunden mit den Erinnerungen meiner Landsleute sowie Erzählungen der Zeitzeugen aus ihrem eigenen Schicksal, die den steinigen, tragischen und gefährlichen Weg gegangen sind.
Können Sie über die Struktur des Buches erzählen? Welche Themen wurden beschrieben, was könnte das Interesse der Leser erwecken?
Für jeden Menschen kommt mal im Leben die Zeit, da ihm der Wunsch nach der Suche der eigenen Identität, der eigenen Wurzeln hochinteressant wird. Nach einer längeren Forschungsarbeit mit Archivmaterialen, Suchen in verschiedenen Literaturquellen und aufgrund der noch vorhandenen anderen Dokumente entstand dieser bescheidene Beitrag zur Geschichte der Wolgadeutschen.
Im Buch kommen viele Namen der Wolgadeutschen vor, die 1766 dem Ruf der Kaiserin Katharina folgten, den Wanderstock ergriffen und ihre Heimat verließen. Ihre Neusiedlung war das Dorf Solothurn-Wittmann an der Wiesenseite des großen russischen Flusses Wolga. Es sind die Einwohnerlisten des Dorfes von 1768 und 1834 vorhanden. Über die Vertreibung von 1941, die Zwangsarbeit in der Trudarmee und das Leben unter der Kommandantur in Kasachstan findet der Leser im Buch Berichte der Zeitzeugen, die im Alter bis 90 Jahren jetzt in Deutschland leben. Sie erkennen darin ihre eigenen Schicksale, ihre junge Jahre, ihre Heimatorte an der Wolga und auch bekannte Namen wieder. Der jüngere Leser erfährt ein kleines Stück Geschichte der Wolgadeutschen.
Im Buch kommt ein Stück der deutschen Folklore vor, was ich sehr interessant finde. Könnten Sie ein Beispiel bringen?
Man darf nicht denken, dass die deutsche Minderheit verbittert, ihrem schweren Schicksal hingegeben, traurig dahingelebt hatte. Unter den schwersten Lebensbedingungen, hinter zugezogenen Fenstervorhängen wurden heimlich Weihnachten und Ostern gefeiert. Junge Leute verliebten sich und feierten Hochzeiten. Es wurde viel gesungen und musiziert. Die Texte der Lieder hörten wir als Kinder und sangen sie mit. Gewisse Literaturwerke wurden mündlich und auch schriftlich von Generation zu Generation weitergegeben. Auch ohne besonderen festlichen Anlass sang meine Großmutter an den langen Winterabenden am Spinnrad mit hoher, klarer Stimme ihre Lieblingslieder.
Da bringe ich eine Strophe des vielen Russlanddeutschen bekannten Volksliedes, das auf Hochzeiten, gesungen wurde:
Die Liebe macht arm und macht reich,
Die Liebe macht alle gleich.
Die Liebe macht Bettler zum König
Und König zum Bettler zugleich.
Ein besonderes Thema für die Russlanddeutschen, die in ihre historische Heimat zurückgekehrt sind, ist die Integration in die Gesellschaft. Wie können Sie diesen Prozess einschätzen?
Das ist eine brennende, aktuelle Frage. Die Integration ist für die Russlanddeutschen ein langer und oft ein schwieriger Prozess ihrer sozialen Entwicklung in der neuen Heimat. Die Hauptbarriere zur erfolgreichen Integration sind die mangelhaften Sprachkenntnisse.
Die Sprache ist der Schlüssel zur Lösung aller Probleme. Beratungen, Behördengänge, Hausarztbesuche, Berufsausbildung und schlicht die zwischenmenschliche Kommunikation sind ohne die Kenntnisse des Deutschen unmöglich.
Meiner Meinung nach müsste man an dieses Problem in den Familien ernsthafter herangehen. Man braucht natürlich eine gewisse Zeit, bis man die Sprache im Alltag oder in der Ausbildung frei benutzen kann, wenn aber auch die Eltern sich darum bemühen, die Sprache zu erlernen und die erworbenen Kenntnisse weiter aufzubauen, so folgt diesem Beispiel auch die jüngere Generation.
Es gibt schon viel Positives zu berichten. Beispiele einer erfolgreichen Integration können wir in unserer Umgebung beobachten. Man muss dies mehr herausheben, mehr darüber schreiben. Schmerzhaft ist, dass ein Teil unserer Jugendlichen es noch nicht geschafft hat, drogenabhängig wurde, ohne Berufsausbildung blieb und darum schnell arbeitslos wurde und auf die schiefe Bahn geriet.
Es gibt zurzeit viele Einrichtungen und Projekte für Jugendarbeit, in denen die jungen Leute unterstützt werden und Hilfe bekommen können, die Hauptsache ist aber der eigene Wille zur Integration. Ohne eigenen Fleiß, ohne eigene Zielstrebigkeit kommt keine Integration zustande. Ich bin fest überzeugt, dass ein jeder sich der Notwendigkeit der Integration früher oder später bewusst wird. Man braucht dazu nur Zeit.
Woran liegt das Geheimnis der Zähigkeit der Russlanddeutschen im Leben? Kann man von den Besonderheiten ihres Charakters reden?
Der lange Auswanderungsweg im 18. Jahrhundert von Deutschland nach Russland, die Deportation nach Sibirien und Kasachstan, die Vertreibung aus der Heimat an der Wolga, die schweren Jahre der Kommandantur, die Erniedrigungen durch die Stalinregierung, die vielen erzwungenen Neuanfänge im Leben haben die zähen Charakterzüge, die enge gegenseitige Unterstützung und das Durchhaltevermögen meiner Landsleute, der Russlanddeutschen geformt und gestärkt. Wir müssen alles tun, damit dieses Vermögen den zukünftigen Generationen weitergegeben wird, und sich dieses schreckliche Kapitel in der Geschichte unserer Vergangenheit niemals wiederholt.
Wo kann man das Buch bestellen?
Das Buch hat knapp 200 Seiten, beinhaltet einige Abbildungen. Es kann unter der Telefonnummer 08731/74955 bestellt werden.
Interview: Nadeschda Runde