Heinrich Braun, Astana
Vom 27. bis zum 28. September fand in Astana ein Arbeitstreffen zur Entwicklung eines Programms für die Entwicklung der deutschen Minderheit in Kasachstan statt. Eines voran: Dieses Arbeitstreffen sollte die Wende in der Geschichte der Vereinigung der Deutschen Kasachstans „Wiedergeburt“ einläuten. Schließlich verläuft das Leben seit vielen Jahren auf eingefahrenen Bahnen. Es gab Treffen, Veranstaltungen, Reisen ins Ausland. Aber all dies hat keinen Einfluss auf den Alltag und die Feiertage der ethnischen Vereinigung. Heute ist die Frage kurz und knapp: sein oder nicht sein? Gehen oder bleiben? Wird diese Frage diskutiert werden? Wird es Maßnahmen geben, um die neuen Herausforderungen für unsere Minderheit zu bewältigen?
Gründe, Angst zu haben
Die oft trockenen Beiträge der Vertreter der „Wiedergeburt“ stimmten nicht optimistisch. Sie klangen nicht nach Aufbruch. Aus den Präsentationen, zum Teil gespickt mit Tabellen und Diagrammen, ließ sich keine aufrichtige Sorge um das Schicksal der Deutschen, die aus verschiedenen Gründen noch in Kasachstan sind, heraushören. Es war auch nicht die erste Zusammenkunft der Kasachstandeutschen; es wurde schon viel Zeit und Geld in das Thema investiert. Doch wo sind die Ergebnisse? Denn damit, Vorträgen zu lauschen und auf die nächste Kaffeepause zu warten, ist es nicht getan. Es gibt viele Gründe, Angst zu haben.
Wir schauen zurück: Anfang der 1990er Jahre waren die Deutschen die drittgrößte ethnische Gruppe in Kasachstan. In Schulen und Universitäten wurde aktiv Deutsch unterrichtet, es existierten Lehrstühle für die deutsche Sprache. Im Norden und im Zentrum des Landes waren es meist die Deutschen, die die Landwirtschaft führten beziehungsweise den Vorsitz in den Sowchosen und Kolchosen innehatten. Heute sind von der ehemals einen Million Deutschen, die auf dem Territorium des jetzigen Kasachstans lebten, nicht einmal mehr 180.000 übrig. Das Beunruhigendste ist jedoch die Änderung der Terminologie: Aus dem respektvollen und bedeutenden „deutschen Volk“ und den „Sowjetdeutschen“ ist die Protokollbezeichnung „Angehörige der deutschen Nation“ (auf Russisch: лица немецкой национальности, Anm. d. Red.) geworden.
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Sprache als identitätsstiftendes Moment?
Doch es kann sein, dass es ein echtes Problem mit der Identität der Deutschen gibt, die heute noch in Kasachstan leben. Sie leben getrennt in kleinen Gruppen in hunderten, gar tausenden Siedlungen – weit weg voneinander. Darüber sprachen nicht nur der Vorsitzende der „Wiedergeburt“, Albert Rau, und der Geschäftsführer Dmitry Redler, sondern auch viele andere auf dem Arbeitstreffen. Die Diskussionsthemen waren wie folgt festgelegt worden: ethnische Identität, Bildung und Sprache, Sozialarbeit, Partnerschaft und Medien, Entwicklung des Unternehmertums, Ausbau der Organisationsstruktur und Jugendarbeit – alles aktuelle Themen.
Das vielleicht wichtigste Kriterium, um zu einer Ethnie oder Nation zu gehören, ist wohl die Sprache. Ich war anfangs besorgt, dass ich nichts verstehen würde, da ich die Sprache meiner Vorfahren kaum beherrsche. Dabei bestand gar kein Grund zur Sorge: Kein Teilnehmer des Treffens traute sich, auch nur einen Teil seiner Rede auf Deutsch zu halten. Zwar ist das Erhalten der deutschen Sprache ein Hauptanliegen der Vertreter der „Wiedergeburt“, doch sehen laut einer aktuellen Umfrage gerade einmal 15 Prozent Deutsch als ihre Muttersprache an. Innerhalb der Familien wird kaum Deutsch gesprochen. Vielleicht haben deshalb selbst in den Pausen nur die deutsche ifa-Redakteurin Othmara Glas und ein Gast aus Omsk, der in Deutschland aufgewachsen ist, miteinander deutsch gesprochen. Natürlich fehlt unserer Diaspora die Umgebung, um Deutsch zu sprechen. Doch woher soll diese Umgebung kommen, wenn schon von Kindesbeinen an der Weg zur Beherrschung des Deutschen als Muttersprache versperrt ist? Und das liegt nicht an äußeren Umständen. Nein, es liegt an den Deutschen selbst.
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Deutsch eröffnet Perspektiven
Ja, es ist schwer, Erstklässlern Deutsch beizubringen. Ja, die Profillehrer sind schlecht oder gar nicht qualifiziert. Es gibt keine modernen Lehrbücher und Lehrmaterialien. Es gibt keinen besonderen Eifer und Enthusiasmus dafür, Probleme zu lösen. Doch die Frage aller Fragen ist: Entweder wir tun alles, um die deutsche Minderheit im Land zu erhalten und gar weiterzuentwickeln oder wir bleiben bei der Trägheit, dem Müßiggang, der Routine, der die meisten regionalen Büros der „Wiedergeburt“ verfallen sind. Die Teilnehmer machten Vorschläge. Doch wie deren Umsetzung erfolgen soll und wer dafür zuständig sein wird – diese Fragen blieben ungeklärt.
Die Regierung hat entschieden, dass die dritte Sprache Englisch ist. Okay. Aber das sollte für die Deutschen kein Grund sein, ihre Muttersprache zu vergessen. Und es ist definitiv kein Grund, die Gelegenheit zu verpassen, ihre Kinder in Deutschland und Österreich kostenlos auf Universitäten zu schicken. Kostenlos! Und wenn die Erstklässler und Schüler überhaupt keine Möglichkeit haben, Deutsch in der Schule zu lernen, findet einen Weg, dass sie es außerhalb des Unterrichts können – selbstständig! Ein Lehrer aus Astana oder Almaty wird nicht zu euch kommen, um eure Probleme zu lösen! Und wozu braucht man dann überhaupt Regionalbüros?
Und es sei immer wieder daran erinnert: Weder in Kanada, noch in den USA, noch in irgendeinem anderen Land mit einem hohen Bildungsniveau werden eure Kinder kostenlos studieren können. Außer in Deutschland und Österreich. So löst man gleich zwei Probleme auf einmal: Ihr investiert in die Bildung eurer Kinder und bringt sie ihren Wurzeln wieder näher. Man muss zu den Menschen gehen – nicht nur an Feiertagen.
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Keiner sucht sich seine Nationalität aus
Und was sind diese Wurzeln? Fühlt man sich nach dem Verzehr von Strudel und Bier schon als Deutscher? Oder in Lederhosen auf dem Oktoberfest? Ich bestreite nicht, dass das auch wichtig ist. Aber es ist eben nicht alles. Es sind Dinge, die schwerer wiegen als Bierkrüge, die manchmal nicht so einfach zu erklären sind. Die Eltern und Großeltern haben es sich nicht ausgesucht, nach Kasachstan deportiert zu werden. Es ist einfach passiert. Ebenso wenig haben sie ihre Heimat und Nationalität gewählt. Sie wurde ihnen von ihrer Geburt an zuteil.
Kurz gesagt: Viele Fragen sind auf dem Arbeitstreffen offen geblieben. Die Führung der „Wiedergeburt“ fordert die Deutschen in Kasachstan auf, Vorschläge zu machen. Die Zeit wartet nicht. Im Februar sollen erste Ergebnisse präsentiert werden. Jeder Kasachstandeutsche kann jetzt einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der deutschen Minderheit leisten.
Medien verbinden
Ich persönlich war vor allem an den Problemen der Medien interessiert. Sie sind das sichtbarste und wirksamste Instrument, um die verbliebenen Deutschen in allen Landesteilen zu verbinden. Die DAZ erscheint in zwei Sprachen. Das ist großartig. Nun, die spärliche Auflage sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zeitung im Internet monatlich von etwa 50.000 Menschen gelesen wird: etwa 30.000 lesen auf Deutsch und ein kleinerer Teil liest auf Russisch. Seitens der „Wiedergeburt“ gibt es Pläne für ein Internetradio. So wird bald unter dem Schirm der Stiftung eine kleine Mediengesellschaft entstehen. Ich wünsche uns eine gute Arbeit und ein breites Publikum! Doch es wird schwierig werden. Es ist wichtig, junge Mitarbeiter zu gewinnen, die wissen, wie die Jugend tickt. Es ist notwendig, dass sich Journalisten aus Deutschland und Kasachstan austauschen. Es wurde sogar der Vorschlag gemacht, ein virtuelles Portal einzurichten, mit dem man kostenlos auf der Seite der DAZ surfen könnte.
Wir werden immer weniger. Aber was mit uns in Kasachstan auch passiert, es ist immer noch der Ort, wo unsere Nachkommen leben. In jedem Fall werden sie die Bürger Kasachstans sein. Und es ist wichtig, dass sie bei der nächsten Volkszählung unbedingt bei der Nationalität „deutsch“ angeben. Es bedeutet, dass die Geschichte unseres Volkes weitergeht.
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Aus dem Russischen übersetzt von: Othmara Glas