Es ist noch früher Morgen, aber die Sonne brennt bereits unerbittlich auf die Metropole Almaty. Es wird ein heißer Tag werden. Geländegängige Fahrzeuge stehen pünktlich am Treffpunkt bereit, während sich die Gäste der Tour langsam zusammenfinden und sich den Schlaf aus den Augen reiben. Manche verstecken ihre tiefsitzenden, dunklen Augenringe der letzten Partynacht hinter dicken, schwarzen Sonnenbrillen und haben ihre Kapuzenpullis tief ins Gesicht gezogen. Die Fahrer der Geländewagen wuchten mit gekonntem Schwung Zelte, Isomatten und Schlafsäcke auf die Dachträger ihrer Autos. Alles wird festgezurrt, nichts darf verrutschen, es wird ins Gelände gehen! Ich nehme an einer zweitägigen Offroad-Tour in die Natur teil, es soll auf die Assy-Hochebene gehen, wir werden in Zelten übernachten. Ich bin gespannt, was mich erwartet.
Die Autokolonne setzt sich in Bewegung. Es sind allesamt Autos des Typs Mitsubishi Delica, Kleinbusse mit bis zu 7 Sitzplätzen, aber voll geländegängig. Diese Autos waren seinerzeit außerhalb Japans nicht besonders gefragt. Seit der Tourismus Zentralasien erreicht hat, sind sie es hierzulande allerdings umso mehr. Unser Fahrer erzählt, die Autos sind auf dem lokalen Gebrauchtwagenmarkt überdurchschnittlich teuer, obwohl sie als Japanimporte das Lenkrad auf der rechten Seite haben. Und trotzdem werden diese speziellen Geländewagen auch heute noch in großer Zahl gebraucht gekauft, viele Menschen sehen es als eine Investition in ihre Selbstständigkeit an und übernehmen Fahrten und Ausflüge für Touristen in die Berge.
Unsere Autokolonne hat inzwischen, nach rund einer Stunde Fahrt, die Kleinstadt Issyk erreicht, hier geht es von der Fernstraße nach rechts ab. Aus dem Städtchen Issyk führt nur eine kleine Straße direkt in die Turgen-Schlucht. Man sieht links und rechts der Straße Familien, die im Schatten der Bäume und am Flusslauf sitzen und picknicken. Sie sind für einen Tag der Hitze der Stadt entflohen und genießen die Ruhe und die frische Luft im Schatten der Schlucht. Frauen sitzen mit ihren Kindern auf weit ausgebreiteten, bunten Decken, Männer stehen in einigem Abstand an ihren mitgebrachten Mangal-Grills und grillen traditionelle, zentralasiatische Schaschlikspieße. Andere haben ihre Zelte aufgeschlagen, sie werden über Nacht am Flussufer in diesem Tal bleiben.
Ritt über holprige Pisten
Diese bunten Flecken in der grünen Landschaft lassen wir hinter uns, die Grenzstation des Ili-Alatau-Nationalparks liegt vor uns. Von jetzt an geht es auf einer einspurigen Schotter- und Geröllpiste weiter. Raue, schroffe Felswände steigen aus dem Flussbett des eisigen Gebirgsflusses Turgen auf und erheben sich steil nach oben. Unser Fahrer schlängelt sich um die spitzen Felsen herum über das lose Geröll nach oben, während auch der Wagen an seine Grenzen kommt. Der Motor, bei jeder Kurve laut aufheulend, scheint jetzt unter Volllast zu arbeiten. Die Mitreisenden, besonders jene auf der hintersten Sitzbank, werden bei jedem Schlagloch aus dem Sitz geworfen und von links nach rechts geschleudert. Jeder hält sich fest, so gut es geht.
Die Piste steigt inzwischen steil nach oben an. Unser Fahrer hat seinem Auto eine Zwangspause verschrieben. Wir steigen aus, 10 Minuten lang die Füße vertreten und die ersten Fotos in der grünen Natur schießen. Meine Mitfahrerinnen setzen sich gekonnt vor dem Bergpanorama und im Sonnenlicht in Szene, diese Bilder werden schon bald in den sozialen Netzwerken landen. Die Motorhaube des Wagens steht weit offen, um kühle Luft an den Motor zu lassen. Und ja, es ist wirklich bereits deutlich kühler geworden, eine frische Brise bläst uns um die Ohren, wir haben schon einiges an Höhe gutgemacht. Das Hochplateau kann von hier aus nicht mehr weit sein. Die anderen Autos unserer Kolonne ziehen an uns vorbei und auch wir setzen uns wieder in Bewegung. Eine letzte Kraftanstrengung für den japanischen Minibus.
Dem kasachischen Nomadengeist ganz nahe
Wir erreichen das Hochplateau Assy. Die Baumgrenze haben wir schon lange hinter, bzw. unter uns gelassen. Immerhin befinden wir uns hier bereits auf einer Höhe von 2.800 Metern. Die Landschaft ist herrlich, das Panorama der umliegenden Berge des Transili-Alatau fantastisch. Auf den grünen, scheinbar vegetationslosen Feldern der Ebene finden beeindruckende Lichtspiele aus Sonne und Schatten statt. Bereits seit der Antike ist Assy bei den Nomaden als Sommerweide bekannt, auch die Karawanenrouten der Seidenstraße von Europa über Zentralasien nach China und Indien verliefen durch diese Gegend. Und noch heute bringen im Sommer die örtlichen Hirten ihre Schafsherden hierher nach oben.
Man hat fast den Eindruck, man wäre dem kasachischen Nomadengeist hier ganz nahe.
Diese ursprüngliche Hochgebirgsidylle vor grandiosem Gipfelpanorama wird durch das hier ansässige sogenannte Assy-Turgen-Observatorium jäh gestört. Die Abgeschiedenheit dieses Ortes, die Lage in einer Höhe von 2.750 Metern sowie die Entfernung zu den umliegenden Städten und Dörfern machen Assy allerdings zum idealen Ort für Sternenbeobachtung. Auf dem Hochplateau sind stockdunkle Nächte garantiert und Lichtverschmutzung von der Großstadt Almaty nicht zu erwarten. Der Bau der Anlage begann bereits im Jahr 1975, ein erstes, von Zeiss geliefertes Teleskop ist seit 1981 in Betrieb.
In den 80er Jahren begann bereits die Errichtung eines noch bei weitem größeren Teleskops, was durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und die daraus folgende schwere wirtschaftliche Krise zwischenzeitlich gestoppt wurde. Der Bau wurde von 1992 an für ganze 22 Jahre eingestellt und erst 2014 wieder aufgenommen. Seit 2017 ist das Teleskop vom Typ AZT-20 mit einem parabolischen Spiegel von 1,5 Metern Durchmesser im Regelbetrieb und gilt damit als eines der größten der Welt. Das astrophysische Fesenkow-Institut, welches die Anlage betreibt, bescheinigt dem Observatorium die besten astroklimatischen Voraussetzungen in ganz Kasachstan durch geringe Luftverwirbelungen einer hohe Transparenz, sowie eine geringe Luft- und Lichtverschmutzung.
Lagerfeuer, Sternenhimmel und Eiseskälte
Es wird Zeit, das Zelt aufzubauen. Die Sonne hat ihren höchsten Stand schon lange wieder verlassen und die Abendstunden nahen. Die ganze Reisegruppe hatte sich einen Platz am Hang gesucht, um das Sonnenuntergangsspektakel zu beobachten. Ein letztes Mal noch glühen die gegenüberliegenden Berggipfel feuerrot, bis die Sonne dahinter verschwindet. Und plötzlich wird es frostig kühl. Sobald der Schatten über die Hochebene zieht, fallen die Temperaturen ungebremst. Inmitten unserer kleinen Zeltstadt entzünden unsere Fahrer ein Lagerfeuer.
Sobald es dunkel ist, dröhnt aus einem der Jeeps dumpfe Musikbeats und quietschender Gesang. Gegen die bittere Kälte hilft jetzt am besten, noch ein Stündchen um das Feuer herumzutanzen. Auch ein paar Flaschen Wodka kreisen nun und tun ihr übriges zur Stimmung. Am Himmel steht die Milchstraße, deutlich zu sehen, neben Abermillionen unbekannter, funkelnder Glitzersterne. Aus dem Observatorium klingen laute Stimmen, ein paar meiner Mitreisenden konnten den Wachdienst der Anlage mit einigen Tenge-Scheinen überreden und bekommen eine Privatführung hoch in die Kuppel des Teleskops. Noch ein Schluck Hochprozentiges aus meinem verbeulten Metallbecher und es wird Zeit für den Schlafsack.
Ein ereignisreicher Ausflug in die Bergwelt des Transili-Alatau
Eine furchtbar eisige Nacht geht zu Ende. Ich habe mehr gezittert, als geschlafen. Der Schlafsack konnte sein Versprechen nicht halten, mich auch bei Temperaturen um den Gefrierpunkt noch warmzuhalten. Heute bin ich derjenige mit den Augenringen. Die Sonne scheint bereits und es ist schon wieder angenehm warm. Alle sind eifrig dabei, das Nachtlager abzubauen und auf den Autos zu verstauen. Ich sitze im Gras und genieße noch ein bisschen den grandiosen Blick auf die umliegenden Bergspitzen. Ein paar Hirtenburschen sind mit ihren Pferden vom nächstgelegenen Hirtenlager zu uns aufs Plateau geritten, sie lassen Touristen für ein paar Tenge mitreiten.
Dann heißt es, Sachen packen, einsteigen! Die Kolonne der japanischen Offroad-Minibusse setzt sich wieder in Bewegung. Es geht entlang der steinigen Bergstraße, durch das Turgen-Tal und das Städtchen Issyk auf der Fernstraße zurück nach Almaty. Es war ein ereignisreicher, spannender und wunderschöner Ausflug in die Bergwelt des Transili-Alatau und sicherlich nicht das letzte Mal, dass ich dieses faszinierende Hochplateau Assy besucht habe. Nur einen wärmeren Schlafsack sollte ich mir das nächste Mal einpacken!