Alexandr Schatz ist Unternehmer, Ehrenprofessor am Institut für Wirtschaftsforschung der Republik Kasachstan sowie Autor von „Die Zivilgesellschaft und ihre Gegner“ und „None but America“. In einem Gastbeitrag setzt er sich mit der Frage auseinander, wie das ideologische Auseinanderdriften auf der Welt beendet werden kann. In besonderer Verantwortung sieht er die USA. Der Beitrag erschien zuerst auf Russisch in der kasachischen Wochenzeitung „Delowaja nedelja“.
Der zwangsläufige Prozess der weltweiten Integration und Vereinheitlichung, der sich in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens vollzieht, führt, wie ich glaube, nach und nach zur höchsten Form der gesellschaftlichen Einheit. Es findet eine – im Moment noch sehr schmerzhafte – Neuorientierung der Menschen von der nationalen Kultur hin zu einer globalen Kultur statt.
Dieser Prozess muss zweifelsohne auf natürliche Weise und durchdacht im Interesse aller Länder erfolgen. Die Realität sieht derzeit jedoch so aus, dass die Globalisierung ihrem Inhalt nach dem gesellschaftlichen Fortschritt nicht förderlich ist. In der Weltgemeinschaft gibt es keine Führungsmacht, die den Prozess hin zu einer geeinten Welt in eine positive Richtung lenken würde. Es gibt nur eine Führungsmacht, die versucht, ihre Führungsposition zu verteidigen, aber ihre Dominanz ist nicht darauf ausgerichtet, viele andere Länder in ihr System der globalen Unipolarität zu integrieren. Sie ist noch nicht in der Lage, die globalen Beziehungen zu strukturieren und die Stabilität und Lenkbarkeit der weltweiten Entwicklung zu gewährleisten.
Es gibt auch weniger bedeutende Machtzentren, die versuchen, auf der Grundlage bestehender Beziehungen eigene Staatenkoalitionen zu bilden und sich somit vom negativen Einfluss des ungünstigen Formats der Globalisierung zu schützen. Die verschiedenen globalen Einflusspole mit ihren unterschiedlichen Stoßrichtungen schaffen eine Vielzahl von Problemen und verursachen Krisen und Konflikte. Diese Pole, von denen jeder so seine Eigenheiten hat, ziehen andere Staaten in ihre Einflusszone und fragmentieren somit die Weltgemeinschaft, einzelne Gesellschaften und soziale Gruppen in gegeneinander agierende Elemente.
Teufelskreis der Gewalt
So begann eine widersprüchliche – barbarische – Epoche in der Entwicklung der Menschheit, die bis heute andauert: Die Verletzung der rationalen Grundlage führte zu einer künstlichen Spaltung der Gesellschaft in sich feindlich gegenüberstehende Teile, deren gegenseitige Bekämpfung dem historischen Prozess eine vernunftwidrige, grausame, widernatürliche Richtung voller menschlicher Schande verlieh. Die klassenfeindliche, asoziale Struktur einer Gesellschaft der Sklavenhalter wurde sowohl an feudale als auch an kapitalistische Gesellschaften weitergegeben. Der Fehler der ersten Arbeitgeber führte zu einem Paradoxon des Seins: Die Ausrichtung auf Vernunft und eine natürliche Weltordnung basierte nicht auf einer vernünftigen Grundlage, der Konflikt wurde zu einer universellen Form des menschlichen Zusammenlebens, er wurde zum Absolutum.
Die ersten Ausbeuter schufen somit einen Teufelskreis der Gewalt, der wiederum Gegengewalt hervorrief. Alle Versuche, aus diesem Teufelskreis auszubrechen (das Propagieren vermeintlich positiver Werte in einem Teil der gespaltenen Gesellschaft aktiviert die Kräfte des anderen Teils der Gesellschaft, der diese Werte ablehnt), waren, wie die Geschichte zeigt, vergeblich. Die Methode von Karl Marx, die darauf ausgerichtet ist, die Widersprüche des Kapitalismus zu beseitigen, ist absolut unwissenschaftlich und daher nicht nur ineffektiv, sondern auch sträflich falsch. Lediglich gewerkschaftliche, sozialdemokratische und andere „soziale Krücken“ sind zur Rettung des Kapitalismus vor seiner eigenen Hässlichkeit mehr oder weniger effektiv. Einen geringfügigen und nur einseitigen Nutzen bringt die Eigentumsbeteiligung in Anteilsform.
Die Vereinigten Staaten haben sich selbst als das Zentrum der imperialen Hegemonie definiert und den Rest der Welt als Peripherie, deren Führung, Beeinflussung und Beherrschung sie als ihre Aufgabe betrachten. Alles schön und gut, aber die Grundlage der „liberalen“ US-Hegemonie besteht in der Verbreitung von Postulaten in der Welt, die sich bereits während der Entstehung des Systems der Sklavenhaltung gebildet haben. Somit gründet der Liberalismus auf einer Sklavenhaltermentalität. Die kapitalistische Gesellschaft ist das direkte historische Erbe einer Gesellschaft der Sklavenhalter mit all ihren Missständen. Und genau hierher rühren der permanente Krisenzustand des Kapitalismus und seine Inkompatibilität mit gesellschaftlichem Fortschritt.
Das bedeutet, dass die amerikanische imperiale Hegemonie eine „würdige“ und mit diabolischer Inbrunst verfolgte Fortsetzung des barbarischen Zeitalters darstellt. Heute ist der Liberalismus aufgrund der intellektuellen Unfähigkeit seiner Vertreter, ihre Unzulänglichkeiten, Begrenztheit, Ineffizienz und Aussichtslosigkeit zu erkennen, zu einem globalen Problem geworden.
Weltanschauliche Wiederbelebung des Liberalismus nötig
Es besteht kein Zweifel: Der Liberalismus ist die einzige politische und philosophische Doktrin, der irgendeine Art von Rationalität innewohnt. Deshalb ist der Kapitalismus in der Entwicklung stabiler und attraktiver als der Sozialismus. Aber das reicht nicht aus, um den Liberalismus zu einer universellen historisch-philosophischen Doktrin und zur vorherrschenden politischen Ideologie zu machen. Solange der Liberalismus rational unreif ist, wird der Kapitalismus sozial unzulänglich bleiben. Genau aus diesem Grund werden immer alle möglichen Arten von geistigen Chimären erdacht, zu denen auch der Marxismus zählt.
Der Liberalismus braucht dringend eine gründliche weltanschauliche Wiederbelebung, deren Sinn es ist, ihn so zu „heilen“, dass er für die gesamte Gesellschaft, nicht nur für einen auserwählten Teil davon, nutzbringend sein kann. Die aggressive Popularisierung liberaler Werte ohne rationale gesellschaftliche Grundlage hat negative Auswirkungen auf alle wichtigen Bereiche der Internationalisierung.
Ein durch vehemente Nötigung übergestülpter mangelhafter Kapitalismus kommt einem Sturm aus Chaos, Ungerechtigkeit und Kriminalität gleich, der buchstäblich alle sozialen Probleme verschärft. Die Liberalisierung der postsozialistischen Länder nach mittelalterlichen Rezepten ist eine zynische und feindselige Provokation des Westens. Die Vertreter des unterentwickelten Liberalismus verstehen nicht, dass ihr Verstand schrecklich ist, weil er nicht dem Fortschritt der menschlichen Existenz dient.
Das konzeptionelle Credo des klassischen Liberalismus beinhaltet die Forderung, einen Staat zu schaffen, der auf einem gemeinsamen Konsens beruht und einzig der Erhaltung und dem Schutz der natürlichen Menschenrechte dient. Aber aufgrund widerstreitender wirtschaftlicher Interessen ist ein Konsens praktisch unmöglich, weshalb diese hehre Absicht der Liberalen immer ein unerreichbares Ideal bleiben wird. Ein gleichermaßen unerreichbares Ziel ist die weltweite Verbreitung der Demokratie. Die Demokratie ist eine hervorragende Regierungsform, aber keine Technologie zur Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme.
Demokratie und mangelhafte staatliche Strukturen passen nicht zusammen
Die noch nicht zu echten Liberalen gereiften Akteure sollten wissen, dass die Demokratie den Grund dafür, dass sich der Totalitarismus im gesellschaftlichen Organismus eingenistet hat, nicht beseitigt. Die durch administrative Gewalt herbeigeführte Vereinheitlichung der Pluralität zu einem einzigen „kollektiven Gesellschaftskörper“ wird durch einen widersprüchlichen – irrationalen – Zustand der Gesellschaft erzwungen, in dem das Recht auf individuelle Wahl bei seiner Umsetzung zur praktischen Koexistenz vieler verschiedener Verhaltensweisen führt, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Zielsetzung nicht in Einklang gebracht werden können.
Die ungebildeten Liberalen versuchen also, die Folge (dem Chaos entgegenwirkende Elemente) zu beseitigen, und nicht die Ursache, und deshalb stürzt die Fixierung der USA auf die Demokratie andere Länder stets ins Unheil. Aus diesem Grunde betrachtete der altgriechische Philosoph Pythagoras von Samos das Chaos der Demokratie als eine der drei realen Bedrohungen für die Menschheit. Am meisten schaden der Demokratie diejenigen, die sie überstülpen, ohne ihre absolute Unvereinbarkeit mit mängelbehafteten staatlichen Strukturen zu begreifen. Ein Schattensystem von Schmiergeldern einerseits und Demokratie andererseits stoßen sich wie zwei gleichnamige Magnetpole ab. In bereits bestehenden Gesellschaften kann nur eine Scheindemokratie existieren.
Die Konturierung einer Weltordnung auf Grundlage der Ideen eines halbgaren Liberalismus verstärkt die antiamerikanische Stimmung in der Welt. Die USA haben kein Recht, die Welt nach ihrem eigenen Modell zu verändern, das selbst alles andere als perfekt ist. Das amerikanische „Vorbild“ einer sozialwirtschaftlichen Entwicklung sollte nicht rund um den Globus verbreitet, sondern mit psychiatrischen Kliniken versehen werden.
Vor kurzem erst hat Donald Trump eingeräumt, dass „wir in 90 Ländern weltweit vertreten sind. Und ehrlich gesagt billigen viele dieser Länder nicht, was wir tun, sie mögen uns nicht“. „…das Gewebe der amerikanischen Führung bekommt überall auf der Welt Risse.“ (David Ignatius) Dies ist das Ergebnis einer falschen Außen- und Innenpolitik der USA, die auf den Überzeugungen der „Gründergroßväter“ beruhen, bei denen es sich um Sklavenhalter, Piraten, Kolonialisten und Cowboys handelte. Die Administration im Weißen Haus wie auch die gesamte amerikanische Elite sind in ihren Ansichten noch gewissermaßen Höhlenmenschen. Dies kann meiner Ansicht nach dazu führen, dass alle Länder der Welt die USA als Terrorstaat einstufen.
Fehlerhafte These
In den 50er- und 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts erlangte die Theorie des „Volkskapitalismus“ große Verbreitung. Eines der Hauptelemente dieser Theorie ist die These einer „Demokratisierung des Kapitals“, also die Verteilung kleiner Anteile unter einer Vielzahl von Eigentümern und die Verwandlung letzterer zu „Miteigentümern“ kapitalistischer Unternehmen.
Der Versuch, das Eigentum zu „streuen“, ist zugegebenermaßen mit dem Versuch gescheitert, die antagonistischen Widersprüche zwischen den Klassen zu beseitigen, und hat kein System geschaffen, das den Interessen des gesamten Volkes entspricht. Die Autoren dieser Theorie haben nicht begriffen, dass die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus nicht auf die Tendenz zur Verringerung desjenigen Anteils der Bevölkerung, der über Produktionsmittel verfügt, zurückzuführen ist. Diese Tendenz ist lediglich eine Folge des Fehlens einer rationalen wirtschaftlichen Basis. Der „Kapitalismus der Aktionäre“ schafft diese Grundlage in keiner Weise. Wir müssen die Ursachen der negativen Erscheinungen beseitigen und nicht ihre Folgen.
Klaus Schwab, Präsident des Weltwirtschaftsforums in Davos, erliegt derzeit derselben falschen Denkweise. Sein Vorschlag, um den Kapitalismus aus der Krise zu führen, ist aus dem gleichen Holz geschnitzt – ebenso primitiv und unwissenschaftlich. Sein Versuch wird zweifellos zu dem gleichen Ergebnis führen wie die Pariser Konferenz „Neue Welt, neuer Kapitalismus“ (Januar 2009), auf der die Staats- und Regierungschefs der führenden europäischen Länder zum ersten Mal die Notwendigkeit eines grundlegenden und nicht nur kosmetischen Umbaus der Welt erklärt haben. Die gegenwärtige politische Praxis hat gezeigt, dass all diese Aussagen nicht mehr als eine populistische Paraphrasierung von Ansichten sind. All dies zeigt, dass weder die Politik noch die Wissenschaft die Grundursache für die Unzulänglichkeit des Kapitalismus verstehen und dementsprechend keine wirksamen Wege zu seiner Reformierung kennen.
Unter Obama wurde die Welt nicht besser
In seiner Antrittsrede erklärte Barack Obama feierlich: „Wir haben Hoffnung gewählt statt Angst, gemeinsame Ziele statt Konflikt und Differenzen.“ Wunderschöne Worte, die zum Slogan für den Aufbau eines erfolgreichen Kapitalismus werden könnten. Hierbei ist zu beachten: Eine Gesellschaft ist, genau wie auch die Weltgemeinschaft, in jeder Hinsicht erfolgreich, wenn sie auf dem Prinzip gemeinsamer Ziele basiert. Sind die Ziele Amerikas von anderen Ländern übernommen worden? Hat die amerikanische Sozialwissenschaft der Regierung im Weißen Haus die Richtung zur Erreichung gemeinsamer Ziele vorgegeben? Natürlich nicht.
Während der Präsidentschaft Barack Obamas wurde die Welt noch schlechter. Die globalen Tendenzen entwickelten sich weiter in Richtung einer Vertiefung der wirtschaftlichen, politischen, sozialen und ethnischen Widersprüche, die allerorten Konflikte heraufbeschworen. Die Welt bewegte sich weiter in die für alle gefährliche Sackgasse der Konfrontation. Amerika war und ist nach wie vor ein hochaggressives Bollwerk der barbarischen Epoche. Und ihr kolonisatorischer Eifer ist keineswegs erlahmt.
Die einzige Möglichkeit, gemeinsame Ziele zu schaffen, ist die Wiederherstellung einer rationalen Grundlage für die gesellschaftliche Entwicklung. Dabei handelt es sich um einen ganz anderen Kapitalismus – einen Kapitalismus, in dem die wirtschaftliche, soziale und moralische Entwicklung Hand in Hand gehen. Dies ist ein völlig anderes Modell der Marktwirtschaft, das auf allen Ebenen geschaffen werden kann und dem Prinzip des „Tauziehens“ entgegenwirkt. Somit wird der unnatürliche Zustand des „Krieges aller gegen alle“ beseitigt. Dank der rationalen Grundlage erhält die Gesellschaft ein konsistentes Wirtschaftsmodell, das auf gleichgerichteten Interessen aller Beteiligten beruht. Sie schafft durch die gemeinsamen Ziele ein echtes Interesse an gegenseitigem Verständnis, gegenseitigem Vertrauen und gegenseitigem Respekt. Sie schafft ein Bedürfnis nach gesunder allseitiger Zusammenarbeit.
Erfolgreicher Kapitalismus – bessere Welt
Durch das Buch „None But America“ zieht sich wie ein roter Faden der Gedanke, dass „…der Weltgemeinschaft ohne eine grandiose und erfolgreiche Neuorientierung der Sozialwissenschaften ein ganz konkretes Urteil bevorsteht: Die Chancen auf eine Verbesserung, auf Gewissheit, auf die Stärkung der globalen Führung, auf eine wirksame Lösung der globalen Entwicklungsprobleme sind praktisch gleich Null“. In dem Buch ist neben begründeter Kritik eine konkrete Möglichkeit zur Schaffung einer Gesellschaft ohne Widersprüche dargelegt. Einer Gesellschaft, die zu einem von allen Völkern geschätzten amerikanischen „Modell“ der sozioökonomischen Entwicklung werden kann.
Der Weg der Vereinigten Staaten zur Großmacht folgt nachstehendem Algorithmus: Neuorientierung der Sozialwissenschaften – Liberalismus mit vollumfänglichem Rationalismus – erfolgreicher Kapitalismus – eine bessere Welt. Die USA müssen als Land mit den besten Chancen, die Welt zum Besseren zu wenden, stärker als andere daran interessiert sein, die globale wissenschaftliche Gemeinschaft zu einem rationalen System von Weltanschauungen und Werten umzubauen. Die Vereinigten Staaten müssen den Kapitalismus, bildlich gesprochen, von seinen in der Sklavenhaltung liegenden Wurzeln befreien. Der Weg der USA zur Großmacht, der Weg der USA zur allgemein anerkannten Führungsmacht der Weltgemeinschaft und die tatsächliche Verbesserung der gesamten Welt durch die rationale Politik der USA sind untrennbar miteinander verbundene und voneinander abhängige Prozesse, die nur parallel ablaufen können.
Das fortschreitende weltanschauliche Auseinanderdriften verschärft die der globalen Problematik zugrunde liegenden Ursachen: die ideologische und politische Konfrontation, die Brennpunkte wirtschaftlicher Interessenskonflikte und die militärische und strategische Konfrontation. Die Weltgemeinschaft braucht eine positive Führungsmacht. Was wir brauchen, ist eine Führungsmacht mit rationalem politischem Denken, die in der Lage ist, die Tendenz der zunehmend zerstörerischen globalen Prozesse konfliktfrei umzukehren und unsere unvollkommene und unglückselige Welt auf den Weg einer erfolgreichen Entwicklung zu bringen.
Die Aussagen in dem Gastbeitrag spiegeln die Meinung des Autors, nicht notwendigerweise der Redaktion wider.