Unser Autor Thorsten Kaesler hat sich auf eine geführte Tour vom Shymbulak zum Großen Almatiner See eingelassen – mit Aufstiegen auf bis zu 4.000 Meter, Wetterkapriolen und Sommernächten in bitterer Kälte. Nebenbei hat er vieles über die Geschichte des Bergsteigens in der Sowjetunion erfahren.
Wer hat noch nie davon geträumt, eine Weltreise zu unternehmen – sei es zu Fuß, mit dem Segelschiff oder gar, wie Jules Vernes literarischer Held Phileas Fogg, mit dem Heißluftballon? Allerdings – ein solches Unterfangen ist für die meisten Menschen unerschwinglich, weil es ihnen an Zeit oder Geld mangelt. Auch die Risiken einer Weltreise sind nicht zu leugnen – vor allem in diesem Jahr, den Zeiten des Corona-Virus.
Wer in Almaty lebt, der kasachischen Kultur- und Naturhauptstadt am Fuße des Tienschan-Gebirges, kann sich glücklich schätzen: Hier ist eine Weltreise auch ohne finanzielle oder zeitliche Privilegien machbar. Sie dauert nur vier Tage, bietet wunderschöne Eindrücke abseits der Massen und kann von gesunden, sportlichen Personen ohne größere Probleme bewältigt werden. Die Rede ist von der „Bolschaja Almatinskaja Krugoswetka“, was je nach Quelle als „Große Weltumsegelung“ oder eben „Weltreise“ ins Deutsche übersetzt wird.
Ein neues Kapitel der sowjetischen Sportgeschichte
Es handelt sich dabei um einen populären Wanderweg, der im Skigebiet Shymbulak beginnt und am Großen Almatiner See endet. Er führt den Bergsteiger für drei Tage in Gebiete jenseits des Mobilfunkempfangs und bis auf 4.000 Meter Höhe über dem Meer. Somit ist zumindest die dritte genannte Eigenschaft der Weltreise – nämlich das Risiko – durchaus gegeben, auch wenn man es durch gute Planung und geeignete Ausrüstung minimieren kann. Neben der spektakulären und noch weitgehend unberührten Natur bietet die Strecke auch Einblicke in Geographie, Geschichte und Politik Kasachstans, so dass jeder auf seine Kosten kommt. Ein guter Grund, sich auf den Weg zu machen.
Am frühen Morgen des ersten Tages treffen wir uns mit zwei Guides der Firma „Gorny Klub“ an der Seilbahn nach Shymbulak. Hier wurde im März 1954 der erste Skilift der Sowjetunion eröffnet. Obwohl der damalige Schlepplift nur eine Länge von 1.500 Metern hatte, begründete er ein neues Kapitel der sowjetischen Sportgeschichte. Der effizientere Aufstieg ermöglichte den Sportlern von nun an häufigere Talabfahrten, wodurch sie sich physisch und technisch weiterentwickeln konnten und den Anschluss an die Weltspitze hielten. Die Moskauer Skirennläuferin Jewgenia Sidorowa, die in Almaty trainierte, gewann zwei Jahre später bei den Olympischen Winterspielen 1956 mit der Bronzemedaille im Slalom das erste Edelmetall für die UdSSR in einer alpinen Disziplin.
Malerische Umgebung
Heute tragen uns moderne Sessellifte in gerade mal einer halben Stunde bis in eine Höhe von knapp 3.200 Metern – für damalige Verhältnisse unvorstellbar! Am Talgar-Pass, der Bergstation, beginnt dann aber unweigerlich der Fußmarsch. Hier hat man zum letzten Mal für drei Tage Handyempfang – ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Wildnis noch nicht überall von moderner Technik ersetzt wurde. Die ersten Schritte fallen gleichwohl nicht schwer, denn es geht bergab ins Tal des Flusses Talgar, das unbewohnt ist. Von hier aus sichtbar ist auch der höchste Berg im Transili-Alatau, der Pik Talgar, welcher sich fast 5.000 Meter über Meereshöhe erhebt.
Je tiefer wir steigen, desto malerischer wird die Umgebung: Die rauen, hochalpinen Matten weichen Nadelwäldern, die von klaren Bergbächen durchflossen werden. Aber jeder Schritt bergab hat seinen Preis, denn wir müssen ihn spätestens am kommenden Tag wieder nach oben machen. Schon am Talgrund des Talgar beginnt der beschwerliche Teil: Im Laufe der Zeit haben riesige Erdrutsche und Steinschläge meterhohe Hindernisse aufgetürmt: Bisweilen ist kein Weg mehr sichtbar, und man muss über wackelige Felsen klettern, von denen so mancher nicht sehr stabil wirkt. An einer Stelle hat sich ein Bach den Weg durch die Überreste einer Mure gegraben. Wo sein Wasser in den Talgar mündet, ist es kaffeebraun vom mitgetragenen Schlamm.
Die „Putjowka“ als „Eintrittskarte“ zum Bergsteigen
Nach mehrstündigem Auf und Ab erreichen wir kurz vor Einbruch der Dunkelheit unser Nachtlager, die „Sonnenwiese“, einen flachen Abschnitt mit sauberen Quellen, wo man gut zelten kann. Doch das Fehlen von Vegetation begünstigt die nächtliche Ausstrahlung: Kaum erscheint der Mond hinter den Gipfeln, wird es auch schon bitterkalt. Für Zeitgenossen, die einen Liegestuhl am Strand bevorzugen, ist die Weltumsegelung nicht zu empfehlen.
Etwas mehr Komfort hätten wir jetzt in einem der zahlreichen „Alplager“ der Sowjetunion, in denen der Bergsport gefördert wurde. Seit den 1920er Jahren wurde in der UdSSR Bergsteigen als eigenständige Sportart betrieben – und damit z. B. nicht mehr nur aus geographischen Interessen. Als Keimzellen des neuen Sportes erwiesen sich oft die Universitäten. Die erste Besteigung des Kazbek in Georgien erfolgte beispielsweise durch Studierende der Universität Tiflis, wobei 18 Personen, darunter auch fünf Frauen, den Gipfel erreichten.
In jener Zeit entstanden auch Ausbildungsstätten, die besagten „Alplager“, in den 30er Jahren zuerst im Kaukasus und bald auch im kirgisischen Ala-Artscha sowie in Kasachstan. Die „Eintrittskarte“ zum Bergsteigen in jenen Zeiten war eine sogenannte „Putjowka“, eine Art Reisegutschein zu einem der Alplager, der nach bestimmten Quoten an die verschiedenen Bergsportvereinigungen ausgegeben wurde. In den 50er und 60er Jahren wurden jährlich ca. 13.000 dieser Reisen verteilt. Dabei gab es natürlich Kriterien: Jede Person durfte nur einmal pro Sommer fahren und musste außerdem bestimmte sportliche Anforderungen erfüllen.
Begehrtes Alpinisten-Abzeichen nur schwer zu erhalten
Obwohl die Fahrten sehr begehrt waren, darf man sich einen Aufenthalt im Alplager nicht als bequemen Urlaub vorstellen: Jeden Morgen musste man um 07.00 Uhr aufstehen, danach folgten Frühsport und Unterricht bis 14.00 Uhr. Letzterer beinhaltete sowohl theoretisches Wissen, z. B. über Sicherheitstechnik am Berg, als auch praktische Übungen. Dazu gehörten etwa das Kochen mit Gasbrennern (diese waren etwa ab den 60er Jahren in der Sowjetunion erhältlich) oder die Kletterei an nahen Felsformationen. Auch nach dem Mittagessen wurde dieses Programm fortgesetzt.
Die erste – und einzige – große Tour des meist dreiwöchigen Aufenthaltes erfolgte erst am 15. oder 16. Tag, da man davon ausging, dass die Teilnehmer so lange zur Akklimatisierung brauchten. Dadurch war es relativ schwierig, das begehrte Abzeichen „Alpinist der Sowjetunion“ zu erhalten, denn dafür musste man einen Gipfel und zwei Pässe der Schwierigkeit 1b bewältigen, was schon allein aus Zeitgründen nicht einfach war.
Gefahr durch Naturgewalten
Auch hier, im Tal des Talgar, befand sich eines dieser Lager, das bereits 1938 errichtet worden war und damit eines der frühesten auf dem Gebiet des heutigen Kasachstans sein dürfte. Es trug den Namen „Metallurgen des Ostens“ und wurde später in „Alpenrose“ umbenannt. Von hier aus kartografierten die Alpinisten den größten Teil des Tals. Auch viele Erstbesteigungen wurden von diesem Lager aus durchgeführt.
Schnell wurde aber die genannte Erdrutschgefahr deutlich, die nicht nur das Lager selbst gefährdete: Nicht weniger als zehn Brücken auf dem Weg dorthin wurden zerstört, was die Versorgung mit Lebensmitteln oder technischem Gerät unmöglich machte. Deshalb gab man das Lager nach dem Krieg ebenfalls auf. Bis in die 80er Jahre wurde es hin und wieder noch auf privaten Touren genutzt, bevor sich vom Gipfel des benachbarten Pik Snezhnoye ein Felssturz löste und die „Alpenrose“ unter sich begrub.
Die Unberechenbarkeit des Gebirgswetters
Der zweite Tag der Tour beginnt mit herrlichem Sonnenschein. Aber die Feuchte, die aus den Wiesen aufsteigt, kündigt schon an, dass das nicht so bleiben wird. Wenn Luft von der Sonne erwärmt wird, steigt sie zunächst auf; da mit zunehmender Höhe aber die Umgebungstemperatur abnimmt, kühlt sich bald auch die aufsteigende Luft wieder ab. Das in ihr gelöste Wasser kondensiert zu Wolken. Weil die Temperaturunterschiede im Gebirge besonders hoch sind, gibt es dort an heißen Sommertagen oft Schauer und Gewitter, während es in Almaty freundlich und trocken bleibt.
Bereits am späten Vormittag ist es vorbei mit dem Sonnenschein; graue Nebelfetzen bilden sich wie aus dem Nichts und türmen sich zu düsteren Wolken auf. Der Wind ist unangenehm, und die ganze Gruppe durchgefroren. Wir beschließen, schon kurz nach dem Mittagessen unser zweites Nachtlager aufzubauen, denn weiterzugehen wäre unangenehm und riskant. Auf einem steinigen Plateau in 3.500 Metern Höhe reicht die Zeit gerade dafür, unsere Zelte aufzubauen, bevor Schneefall einsetzt – und das Anfang Juli!
Der anstrengendste Marsch
Unsere Guides haben aber auch dafür vorgesorgt: Wir versammeln uns alle im größten Zelt und spielen Karten, dicht aneinandergedrängt, um der Kälte zu trotzen. Erst mit dem Einbruch der Dunkelheit legt sich der Wind, und die spektakulären Viertausender, die das ganze Jahr über mit Eis bedeckt sind, treten aus den Wolken hervor. Ganz kurz können wir sogar noch das Alpenglühen genießen, bevor wir eine weitere, bitterkalte Nacht verbringen.
Am dritten Tag steht der höchste Punkt der Wanderung auf dem Programm: Vom Tal des Levy Talgar steigen wir zum Pass der Touristen auf, welcher ungefähr 4.000 Meter hoch ist und die Einzugsgebiete der Flüsse Talgar und Große Almatinka voneinander trennt. Das Wetter ist besser als am Vortag, aber dennoch steht uns der anstrengendste Marsch bevor.
Mit zu wenig Sauerstoff fällt jeder Schritt schwerer
In dieser Höhe spürt man bereits den geringen Sauerstoffanteil der Luft. Jeder Schritt fällt schwerer als üblich, denn unter der schlechteren Sauerstoffversorgung des Körpers leiden Kondition und Muskelkraft. Mühsam arbeiten wir uns bis ins Gebiet des ewigen Eises vor; auf dem letzten Kilometer müssen wir ein ganzjähriges Schneefeld durchqueren, so dass Wanderstöcke und Gamaschen unentbehrlich sind, um nicht abzurutschen und die Schuhe trocken zu halten.
Zu unserer Rechten erheben sich die „Nadeln von Tuyuk Suu“, charakteristische, über 4.000 Meter hohe Felsformationen, die uns vom gleichnamigen Gletscher trennen, der das Tal von Shymbulak abschließt. Linker Hand, in Richtung Süden, befinden sich die Gipfel Molodaja Gwardia und Sowjetskich Alpinistow, beide fast 4.400 Meter hoch.
Sollte hier ein Unfall geschehen – und sei es nur ein verstauchter Fuß – wäre guter Rat teuer. Jede Hilfe ist über einen Tagesmarsch entfernt und es ist fraglich, ob ein Hubschrauber in der Nähe landen könnte. Ich bin froh darüber, dass wir zwei Guides haben, die auch mit einem Satellitentelefon ausgerüstet sind. Einer könnte die Gruppe in Sicherheit bringen, während ein anderer beim Verletzten bliebe. Die Tour alleine zu machen wäre ein ungleich höheres Risiko.
Der Einfluss der Politik auf den Bergsport
Aber alles geht gut: Am frühen Nachmittag stehen wir endlich auf dem Pass und genießen die eindrucksvolle Aussicht in zwei Täler. Viele von uns waren noch nie in einer solchen Höhe, der Jubel ist groß. Zeit zur Erholung bleibt aber kaum – von Westen naht schon wieder schlechtes Wetter, und der Pass ist zu exponiert, um lange dort zu verweilen. Zwar geht es von nun an ausschließlich bergab, aber nach den Strapazen der vergangenen beiden Tage haben unsere Kräfte schon spürbar nachgelassen. Solange man in Bewegung bleibt, geht es. Aber bei jeder Rast kühlt der Körper sofort aus, und man friert wieder.
Das letzte Lager errichten wir auf einer feuchten Wiese gegenüber dem Pik Osjorny, der in der hervorgetretenen Abendsonne erstrahlt. Über ihn verläuft die Grenze zwischen Kasachstan und Kirgisistan, von der wir jetzt nur noch zweieinhalb Kilometer Luftlinie entfernt sind. Die Gegend wird von Grenzsoldaten überwacht und darf nur mit einem gültigen Reisepass oder Ausweis betreten werden.
Hier zeigt sich, wie auch die Politik Einfluss auf den Bergsport nimmt: Bis zum Zerfall der Sowjetunion 1991 gab es hier nur eine simple Verwaltungsgrenze zwischen zwei Teilen desselben Staates. Damals war es problemlos möglich, von Almaty in Kasachstan bis zum beliebten Bergsee Yssykköl in Kirgisistan zu wandern. Es war eine beliebte, mehrtägige Wanderung, ganz ähnlich der Weltumsegelung, von der es mehrere alternative Routen gab, unter anderem an unserem jetzigen Lagerort vorbei.
Freier Grenzübergang als Vorbild ?
Heutzutage ist diese Strecke verboten, denn in den Bergen gibt es keinen offiziellen Grenzübergang. Bis vor wenigen Jahren waren die Regelungen so streng, dass selbst die Weltumsegelung nur mit einer besonderen Erlaubnis begangen werden durfte, weil sie nahe an die Grenze heranführt. Als Ausländer, der mit der kasachischen Bürokratie wenig vertraut ist, hätte ich mich wahrscheinlich nach Alternativen umgesehen – insofern ist die jetzige Regelung begrüßenswert und meine Teilnahme an der Tour ein Zeichen dafür, dass sie dem Tourismus zugutekommt. Man darf sich die Frage stellen, ob ein Modell des freien Grenzübergangs nach Vorbild der EU nicht auch für Kasachstan und seine zentralasiatischen Nachbarn eine Win-win-Situation wäre.
Wieder verschwindet die Sonne hinter dem Horizont, und es wird kalt. Abends, schon im Zelt liegend, hören wir aus der Ferne das Grollen von Donner. Das Wetterleuchten erinnert an das Aufblitzen von Stirnlampen, ist aber ungleich gefährlicher. In dieser Höhe – wir befinden uns immer noch auf etwa 3.000 Metern – gibt es keine Vegetation. Die Zeltspitzen ragen über alles andere auf und sind dementsprechend blitzschlaggefährdet.
Eine ganz eigene Welt
Die Annahme, es sei unwahrscheinlich, vom Blitz getroffen zu werden, beruht auf einer falscher Interpretation von Statistiken: In die Wahrscheinlichkeit werden alle Menschen eingerechnet, also auch diejenigen, die sich während eines Gewitters in geschützten Gebäuden aufhalten, wo die Blitzschlaggefahr gleich null ist. Für jene Minderheit, die sich während eines Gewitters noch draußen aufhält, steigt das persönliche Risiko jedoch dramatisch an – vor allem an besonders exponierten Stellen wie im Gebirge. Wir können jedenfalls froh sein, dass das Unwetter südlich von uns durchzieht und uns nicht direkt trifft. Es geht alles gut, wir überstehen die Nacht unbeschadet.
Schließlich bricht der letzte Tag an, und die Stimmung schwankt zwischen Bedauern, dass die Zeit so schnell vergangen ist, und Freude auf die langersehnte Dusche zuhause sowie das Schlafen im eigenen Bett. Mit jedem Schritt bergab wird es wärmer und bald kommt der Große Almatiner See ins Blickfeld, den nur die Wenigsten aus dieser Perspektive schon gesehen haben.
Ab hier verwandelt sich das großartige Abenteuer „Weltumsegelung“ wieder in eine schöne, aber „normale“ Wanderung, in der Gegenwart von Tagestouristen und mit Handyempfang nach Hause. Wir wissen nun aber deutlich mehr über Geschichte, Natur und Klima des Tienschan und sind mehr als beeindruckt von dem Erlebten. In nur vier Tagen haben wir eine ganz eigene Welt kennengelernt und bereist, die den meisten anderen verborgen bleibt. Die Große Almatiner Weltumsegelung, sie hat ihren Namen wahrhaftig verdient.