Seit dem 24. Februar letzten Jahres wird weltweit über die politische und militärische Situation rund um die Ukraine und Russland gesprochen. Auch auf Deutsche aus den ehemaligen Sowjetstaaten haben sich die Geschehnisse ausgewirkt, medial wurde viel über die Gruppe der Russlanddeutschen berichtet. Im Rahmen der Akademie „Junge Russlanddeutsche und der Ukrainekrieg“ setzten sich die Teilnehmenden mit dem Krieg und seiner Bedeutung für Russlanddeutsche sowie verwandten Themen wie Generationenkonflikten in dieser Gesellschaftsgruppe auseinander.

16 junge Russlanddeutsche aus unterschiedlichen Ecken Deutschlands kamen im Rahmen der Akademie zusammen, um sich mit den gesellschaftlichen und persönlichen Auswirkungen des Krieges auseinanderzusetzen. „Nachdem bei einer Tagung in Detmold im vorigen Jahr immer wieder die mediale Darstellung der Russlanddeutschen vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine aufkam, beschlossen wir recht schnell, dass wir uns in einer Akademie diesem Thema widmen möchten. Das konnte man im letzten Jahr einfach nicht umgehen“, so Edwin Warkentin, Leiter des Kulturreferats für Russlanddeutsche und Co-Autor des Podcasts „Steppenkinder“, über die Entstehung des Projekts.

Die Akademie, gefördert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, ist eine Kooperation der Deutschen Gesellschaft e.V., des Kulturreferats für Russlanddeutsche sowie der Akademie am Tönsberg e.V. in Oerlinghausen, wo auch ein Teil der fünftägigen Frühjahresakademie stattfand. „Es herrschte eine große Bereitschaft, offen über schwierige Themen zu sprechen. Konflikte innerhalb der Familie, die Divergenz zwischen Selbstempfinden und Fremdbeschreibung, das Verhältnis zur russischen Sprache – das alles waren Themen, die wir in einem vertrauensvollen Rahmen diskutieren konnten“, berichtet Warkentin über das Zusammentreffen im Frühjahr.

Potenziale junger Russlanddeutscher

Integraler Bestandteil der Frühjahrsakademie war die Einführung in die drei Medienformate Text-Bild-Essay, Podcast und Video. Dabei wurden die Anwesenden von erfahrenen Russlanddeutschen unterstützt: Neben Warkentin begleiteten Alexej Getmann, Filmautor und Medienwissenschaftler, Katharina Martin-Virolainen, Autorin und Kunstschaffende sowie Elina Penner, Autorin, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. „Es hat mir viel bedeutet, diese Menschen zu sehen. Sie sind migriert und haben etwas geschafft, das ist für mich ein Vorbild. Man hat irgendwie immer das Gefühl, nicht genug zu sein, das nicht zu schaffen. Das gibt dann Kraft“, so Elisabeth Sacharov, Teilnehmerin des Projekts, über die Frühjahrsakademie. Sacharov ist in Karaganda geboren und migrierte 2021 mit ihrer Familie nach Deutschland. In ihrer Jugend war Sacharov Mitglied des Verbandes der deutschen Jugend Kasachstans (VDJK).

Auch Politikerinnen und Politiker waren an der Akademie beteiligt. Elmar Brok, ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments, sowie Robin Wagener, Abgeordneter der Grünen im Bundestag, nahmen an der Frühjahrsakademie teil. Schirmherrschaft übernahm Natalie Pawlik, Beauftragte für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten.

„Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten die Möglichkeit, selbstständig über ihr Empfinden und ihre Probleme mit der Situation zu reflektieren“, erklärt Warkentin über die Rolle der jungen russlanddeutschen Teilnehmenden. „Die jüngere Generation, die bereits in Deutschland sozialisiert wurde, hat das gewisse Know-How, ihre Perspektiven so auszudrücken, dass sie auch in der Mehrheitsgesellschaft ankommen. Die ältere Generation hingegen ist oftmals sprachlos hierher gekommen und hatte noch ganz andere Herausforderungen praktischer Art zu bewältigen. Oftmals war das verbunden mit dem Gefühl, hier in Deutschland nicht verstanden zu werden.“

Eine vielseitige Auseinandersetzung durch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer

Sacharov empfand das Projekt als wichtigen Austauschraum. „Das ist einfach ein safe space. Man fühlte sich direkt verstanden. Wenn wir uns trafen und jemand etwas von sich erzählte, da wussten sofort alle Bescheid. Das ist ein familiäres Gefühl von Geborgenheit. Man muss sich nicht erklären. Alle haben ähnliche Familiengeschichten und verstehen, wie es ist, zwischen zwei Welten zu leben.“

Nach dem Auftakttreffen im Frühjahr folgte eine eigenständige Arbeitsphase. Laut Warkentin waren die Teilnehmenden mit unterschiedlichen Vorerfahrungen in der Arbeit mit Medien sehr motiviert, Beiträge beizusteuern. Durch die unterschiedlichen Perspektiven entstand dabei eine ganze Palette vielfältiger Beiträge. „Eine Teilnehmerin, deren Familienwurzeln sich in Aserbaidschan befinden, berichtete über das deutsche Kulturerbe in Aserbaidschan. Auch wenn das direkt erst mal nichts mit der Ukraine zu tun hat, ist das eine weitere offene Konfliktregion, die sie zu dem Beitrag veranlasste. Ein weiterer Teilnehmer ist aus freien Stücken für zwei Monate in die Ukraine gereist, um im Rahmen unseres Projekts Menschen vor Ort zu interviewen. Eine andere Teilnehmerin wiederum erzählte von ihren Erfahrungen im Bereich der Gebärdensprache bei der Unterstützung ukrainischer Geflüchteter“, schildert Warkentin die vielseitigen Ergebnisse.

Junge Menschen in ihren Vorhaben bestärken

In einer öffentlichen Präsentation am 11. November in Berlin präsentierten die Teilnehmenden ihre Ergebnisse. Das geschieht zu einer Zeit, in der der Krieg, mit dem sie sich befassten, in der deutschen Mehrheitsgesellschaft durch weitere Weltereignisse in den Hintergrund rückt. „Wir alle haben eine bestimmte Herangehensweise an dieses Thema geteilt, denn wir sind alle motiviert, die Mehrheitsgesellschaft immer wieder darauf aufmerksam zu machen, was da passiert. Ich bin schockiert, wenn ich deutsche Medien konsumiere und dort kaum einen Beitrag zur Ukraine finde, während ich gleichzeitig die Nachrichten in der Ukraine verfolge. Aber der Fokus ist nun mal schnell weg, aktuell finden viele offene Konflikte auf der Welt statt. Da kann man nicht jedem die hundertprozentige Aufmerksamkeit schenken“, so Warkentin.

Auf wenig Beachtetes aufmerksam zu machen, damit beschäftigt Warkentin sich auch beruflich. Daher ist es ihm ein Anliegen, junge Russlanddeutsche zu motivieren. „Ich möchte mit meinen Projekten auch die jüngere Generation motivieren. Es ist nicht uncool, sich mit Fragen der Traumata aus der Deportationsgeneration zu beschäftigen, sondern notwendig. Das bedeutet Aufarbeitung. Ich halte es für wichtig, ein Standing in der deutschen Migrationsgesellschaft zu haben. Russlanddeutsche gehören zu den größten Gruppen von Menschen mit einem Migrationshintergrund, sind aber diejenigen mit der leisesten Stimme.“

Eine Geschichte über das Kofferpacken

„Was nimmst du mit?“ – so lautet der Titel des persönlichen Texts, den Sacharov im Laufe des Projekts verfasste. „Die Geschichte ist nicht ausgedacht, das Gespräch hat in Wirklichkeit stattgefunden. Eine Ausstellung über mitgebrachte Gegenstände in der Migration im Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold inspirierte mich für den Titel“, so Sacharov über die Entstehung des Texts. Dieser handelt von einem Gespräch über das Kofferpacken. Die Autorin vermittelt entlang dieses Koffers der Vergangenheit auch Nicht-Materielles, das Migrantinnen und Migranten mitbringen. „Es war nicht einfach, den Text zu schreiben. Ich musste mich zurückversetzen in diese Zeit, als ich meine Koffer packte, da hatte Corona gerade angefangen.“

Alle Ergebnisse in Form von Text-Bild-Essays, Podcasts und Videos, die im Laufe der Akademie entstanden sind, werden zwischen November 2023 und Februar 2024 auf einer Webseite veröffentlicht.

Warkentin zufolge soll die Zusammenarbeit auch in Zukunft weitergehen. „Wir möchten in einer ähnlichen Konstellation weiterarbeiten und warten derzeit auf die Bewilligung eines Anschlussprojekts. Es soll vor allem um das Suchen nach einem Platz in der bundesdeutschen Erinnerungskultur gehen. Wir wollen junge Menschen motivieren, sich damit auseinanderzusetzen, wie wir die Kollektiverinnerung der Russlanddeutschen in Deutschland sichtbar machen können“.

Sasha Borgardt

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