Maria Gliem aus Frauenwaldau, dem heutigen Bukowice in Polen, hat einen Teil ihrer Kindheit als Vertriebene verbracht. Ihre Flucht führte sie nach Hessen, wo vor 70 Jahren die ersten Heimatvertriebenen ankamen. In ihrer heutigen Heimat trägt Gliem dazu bei, dass ihre Erinnerungen an die Zeit in Polen und die Flucht nicht in Vergessenheit geraten. Aus diesem Grund hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben. Die DAZ veröffentlicht mit ihrer Erlaubnis Auszüge aus ihrer Niederschrift.

In Arnsdorf wurden uns in einem Viererblock in einer Siedlung zwei Dachkammern zugewiesen. Jeder Mieter in diesem Haus hatte so eine Kammer und diese wurden für die Flüchtlinge geräumt. Wir bekamen von den Mietern zwei Betten, einen Tisch und drei Stühle, mehr passte nicht hinein. Den Ofen bekamen wir von der Gemeinde. Es war ein Gurkeneimer, oben und unten geschlossen und seitlich ein Rohr. Jeweils einen Topf konnte man darauf kochen und so gab es immer nur Suppe. Die Feuerung war so klein, dass nur Holz in der Größe einer Zigarettenschachtel hinein gesteckt werden konnte. Hier gingen wir auch wieder zur Schule, Bärbel und Susi in die erste, ich in die vierte Klasse, da war ich zwölf, Susi zehn und Bärbel acht Jahre alt. Tante Agnes und Onkel Josef konnten wir oft besuchen. Es waren zum Glück nur drei Stationen mit der Bahn, denn sie fehlten uns sehr. Das Schönste war die Badewanne bei Tante Selma, Onkel Josefs Tochter. Das haben wir jedes Mal richtig genossen, wenn wir dort waren. Nun konnten wir auch den Briefwechsel mit Vater wieder aufnehmen. Über viele Umwege haben wir auch erfahren, dass Tante Marie, Mutters älteste Schwester, noch in Augsburg und Tante Anna in Halle wohnt. Im September fuhr Tante Agnes und Onkel Josef zu Tante Anna nach Halle. Onkel Josef fuhr nach ein paar Tagen zu seiner zweiten Tochter nach Landgrafroda. Tante Agnes blieb noch fünf Wochen in Halle. Auch dort hieß es wieder Kartoffeln, Rüben und Karotten stoppeln. Unser Cousin Josef hatte in der Zeit Firmung.

Am 22. Dezember 1947 kam Tante Agnes wieder und blieb über Weihnachten bei uns. Jetzt fuhr Mutter mit Susi nach Halle. Vater schrieb uns, wir könnten zu ihm kommen, er hat in Asmushausen eine Wohnung gefunden, aber die Behördengänge dauerten zu lange. Da wurde die Wohnung an andere Flüchtlinge vergeben. Vater konnte dadurch keine Zuzugsgenehmigung für uns bekommen. Ohne die Genehmigung durften wir aber nicht ausreisen, die Zonengrenze lag dazwischen. Daraufhin suchte sich unser Vater eine Arbeit auf Gut Fassdorf bei Ronshausen, denn dort konnte er auch eine Wohnung bekommen. Vorher wollte er uns aber erst mal besuchen. Eine Woche lang gingen Bärbel und ich zu jedem Zug, damit er uns auch findet, aber er kam nicht. Bärbel und ich schliefen derweil bei Frau Döberitz, von der wir die eine Kammer hatten, sonst hätte sie noch ein Zimmer in ihrer Wohnung an Flüchtlinge abgeben müssen. Ein paar Tage später klingelte es nachts um 24.00 Uhr bei Frau Döberitz und ich wusste sofort, das kann nur Papa sein. Vor Freude bin ich fast die Treppe runter gestürzt, ich kam gar nicht schnell genug an die Haustür.

Unsere Freude war unbeschreiblich, in dieser Nacht haben wir nicht mehr geschlafen. Vater war so fertig, denn er musste unser Haus ja im Dunklen suchen und er hatte große Angst, dass man ihn festnimmt in der Nacht. Es waren schöne Tage, aber Vater musste bald wieder zurück, denn er musste ja die Zuzugsgenehmigung für uns besorgen. Es wurde Ostern 1948 und die Kartoffeln, die bis zum Herbst reichen sollten, wurden knapp. In dieser Zeit saßen wir jede freie Minute im Rinnstein und sammelten die Kerne von den Lindenblüten. Die Kerne waren sehr fetthaltig, und wenn man den ganzen Tag daran knabberte, war der Hunger nicht mehr so groß. Es gab ja immer noch alles auf Marken und das war wenig genug. In der Schule ging es ganz gut. Aber wir wurden ständig ausgelacht, weil wir so ärmliche Kleidung hatten und Schürzen trugen.

Im April kam endlich die Zuzugsgenehmigung. Unsere Vorräte waren fast aufgebraucht. Tante Agnes und Onkel Josef wollten mit in die amerikanische Zone, aber aus dem Lager in Eisenach wurden sie wieder zurückgeschickt. Wir blieben drei Wochen in Eisenach, aber genau an dem Tag, als wir im Lager ankamen, wurde die Grenzen dicht gemacht. Wir wurden als erstes wieder einmal entlaust, obwohl wir gar keine Läuse hatten. Wir bekamen wieder nur zwei Betten, denn das Lager war völlig überfüllt. Man wollte uns das Fahrgeld geben, damit wir wieder nach Arnsdorf zurückfahren. Mutter wollte eigentlich aufgeben und wieder zurückfahren, aber wir hatten ja überhaupt keine Vorräte mehr.

Bärbel und ich wollten uns allein auf den Weg zu Vater machen und zwar schwarz über die Grenze. Ich habe mich überall umgehört, wie man das anstellen muss und ein alter Mann in Eisenach sagte mir, wir müssten bis nach Dorndorf fahren und von dort fünf kilometer bis nach Vacha laufen. Da sind wir, anstatt nach Arnsdorf, nach Dorndorf gefahren, etwa fünf Kilometer vor Vacha, dort war die Grenze zur amerikanischen Zone. Als wir in Dorndorf ankamen, war es fast dunkel und nette Leute haben uns auf dem Fußboden in der Küche übernachten lassen.

Anderntags sind wir zu Fuß nach Vacha direkt an den Schlagbaum gegangen und sagten dem Zöllner, wir möchten über die Grenze. Der hat uns erst mal ausgelacht und gleich mitgenommen in das örtliche Gefängnis. Wir waren an diesem Tag die ersten, aber bis zum Abend war das Gefängnis voll mit Grenzgängern, die im Westen zum Hamstern waren.
So gegen 23.00 Uhr wurden wir hinaus gerufen und die Zöllner sagten uns, sie würden uns bis an die Grenze bringen. So geschah es dann auch und die Leute im Dorf riefen hinter uns her: „Jetzt bringen die Zöllner schon die Leute selbst über die Grenze.“ Wir hatten schreckliche Angst, denn die Zöllner sagten uns, drüben würden wir wahrscheinlich von amerikanischen Soldaten angehalten. Wir sollten keinesfalls weglaufen, sondern unsere Papiere zeigen, da würden sie uns nicht zurückschicken. Kaum 50 Meter hinter der Grenze wurden wir schon angehalten. Wir konnten kaum reden vor Angst. Sie ließen uns Gott sei Dank durch und zeigten uns die Lichter vom Bahnhof Philippsthal, dorthin sollten wir gehen. Wir hatten nur soviel Gepäck, wie wir tragen konnten, aber wir brauchten Stunden, bis wir dort ankamen. Wir waren total erschöpft, konnten aber nicht schlafen, weil wir Angst hatten, es könnte immer noch etwas passieren. Am Morgen fuhren wir mit dem ersten Zug nach Bebra und mittags nach Ronshausen.

Da wir hungrig und durstig waren, wir hatten den ganzen Tag nichts gegessen, kaufte uns Mutter für jeden eine Banane und ein dunkles Bier. Beides war eine große Enttäuschung, den Bananengeschmack hatte ich ganz anders in Erinnerung und das Bier hat nur nach dem Bebrittbecher geschmeckt. Die letzte Banane bekam ich Anfang des Krieges mit den Worten:
„Es wird die letzte sein für lange Zeit.“ Im Zug nach Ronshausen ließ die Anspannung nach und wir sind im Stehen eingeschlafen. Vom Bahnhof Ronshausen mussten wir noch zwei Kilometer laufen und hatten wieder einmal Pech. Etwa 500 Meter vor uns fuhr der Milchwagen, er hätte uns mitnehmen können, aber er sah uns nicht und wir wussten nicht, dass er nach Fassdorf fuhr. Am 22. April 1948 trafen wir in Fassdorf ein. Unsere Freude war riesengroß, als wir endlich unseren Vater wieder hatten und auch zusammenbleiben konnten.
Nach drei Jahren, drei Monaten, zwei Tagen und fast 1700 Kilometern waren wir endlich angekommen.

Die Fortsetzung dieses Beitrags lesen Sie in den nachfolgenden Ausgaben.

Maria Gliem

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