Maria Gliem aus Frauenwaldau, dem heutigen Bukowice in Polen, hat einen Teil ihrer Kindheit als Vertriebene verbracht. Ihre Flucht führte sie nach Hessen, wo vor 70 Jahren die ersten Heimatvertriebenen ankamen. In ihrer heutigen Heimat trägt Gliem dazu bei, dass ihre Erinnerungen an die Zeit in Polen und die Flucht nicht in Vergessenheit geraten. Aus diesem Grund hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben. Die DAZ veröffentlicht mit ihrer Erlaubnis Auszüge aus der Niederschrift.

In Schlackenwerth (Ostrow) wurden wir mit 85 Personen in einen offenen Viehwaggon verladen, mit dem ganzen Gepäck, was jeder tragen konnte, alles andere musste zurück bleiben. Es war ein sehr langer Zug. An Verpflegung hatten wir nur das mitnehmen können, was wir im Haus hatten. An Mutters Geburtstag stand der Zug auf offener Strecke, es regnete und war bitterkalt. Die Waggons waren verriegelt und wir durften nicht raus. Zu essen und zu trinken bekamen wir auch nichts. Wenn der Zug hielt, kletterten wir trotzdem raus und kochten schnell ein paar Kartoffeln, wenn wir welche hatten. Oft waren sie noch halb roh wenn der Zug weiter fuhr, aber sie wurden gegessen. Manchmal hielt der Zug auch an einem Bahnhof, da suchten wir Kinder sofort nach etwas Essbaren. Stand mal ein Güterzug mit Kartoffeln auf dem Bahnhof, holten wir Kinder soviel wir tragen konnten. Einmal lag ich noch unter einem Zug, unter dem wir durchgekrochen waren, als er anfuhr. Ich schrie fürchterlich, bin aber still liegen geblieben und mir ist nichts passiert. Wasser hatten wir nur, wenn der Zug auf einem Bahnhof hielt und die Lock aufgefüllt wurde. Da hielten wir schnell unsere Kannen darunter. Wenn der Zug auf freier Strecke hielt holten wir Wasser aus dem nächsten Graben. Wir saßen und schliefen jeder auf seinem Gepäck. Unser Nachttopf war für 85 Leute die einzige Möglichkeit, bis ein paar Jungen ein Loch in den Fußboden brechen konnten. Nach ein paar Tagen hatten plötzlich alle Leute Läuse. Meiner Mutter und Hansel ging es gesundheitlich sehr schlecht, wir hatten große Angst, sie würden sterben. Tante Agnes fühlte jede Nacht, ob wir noch alle am Leben sind. Wir versuchten auf Kerzen eine Suppe zu kochen. Ein paar Nudeln hatten wir noch, etwas Griebenfett wurde von einer Frau erbettelt, aber oft fehlte sogar das Wasser. Hielt der Zug auf einem Bahnhof rannten alle Kinder sofort nach Wasser, das nur noch aus den Pumpen zum Auffüllen der Loks lief, alles andere war zerstört. Für die alten Leute war es besonders schlimm, sie mussten die ganzen Wochen sitzen, sie konnten ja nicht wie wir herumklettern. Sie hatten ganz dicke Füße.

In Dresden standen wir ein paar Tage auf dem völlig zerstörten Bahnhof. Tante Agnes wusch sich die Hände in Wasser, das aus den Trümmern lief. Kurz darauf hatte sie einen ganz dicken Finger, der sich schnell dunkelgrau färbte. Es war wohl Wasser, das über Leichen lief. Ihr war schlecht vor Schmerzen und sie wurde bewusstlos. Tags darauf kam ein Mann den Zug entlang. Er blieb an jedem Waggon stehen und sagte: „Ich bin Arzt, aber ich bin Jude. Kann ich helfen?“ Er streute Tante Agnes ein Pulver auf den Finger und kurze Zeit später platzte der Finger auf. Es stank fürchterlich, was da raus lief, aber Tante Agnes erholte sich wieder und wir waren alle sehr froh darüber.

Maria Gliem

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