Es ist noch früher Morgen, aber die Sonne brennt bereits. Ich musste mich beeilen und bin außer Puste, als ich vor meinem Waggon stehe. Der Zug Semipalatinsk – Kyzylorda ist eben in den Bahnhof Almaty 1 eingerollt. Es ist stickig und heiß in meinem Abteil, zwei ältere Frauen schlafen noch, als ich meine Sachen verstaue und das Bett überziehe. Es wird mein Heim für die nächsten 24 Stunden sein, ich mache es mir gemütlich, richte mich heimelig ein, ziehe eine Trainingshose an und packe die Hausschuhe aus. Der Zug setzt sich langsam in Bewegung, es rumpelt und kracht, ich bin auf den Weg nach Südkasachstan.

Als der Zug durch die Mittagshitze fährt, ist es in meinem Schlafabteil kaum noch auszuhalten. Der alte Wagen, der noch aus den Tagen der Sowjetunion stammt, hat keine Klimaanlage. Immerhin lassen sich die Fenster herunterschieben und zumindest ein bisschen Fahrtwind bläst durch das Coupé. Ich gieße mir am Samowar vorne im Wagen eine Tasse Tee auf. Eine Zugfahrt ohne Tee ist undenkbar: Er ist ein elementarer Bestandteil jeder Eisenbahnreise in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Und dabei ist es unerheblich, ob sich der Zug bei -40 Grad durch die nördlichen Eisgebiete kämpft, oder bei +40 Grad ächzend durch südliche Hungersteppen rumpelt.

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Einen klaren Gedanken kann ich inzwischen bei dieser Hitze nicht mehr fassen. Einen russischen Klassiker von Dostojewskij habe ich bereits zur Seite gelegt. Es ist im Zug so heiß geworden, dass ich mich auf schwitzen und liegen beschränke. Ich sehne den Sonnenuntergang und kühlere Temperaturen herbei und schlafe unter dem sanften Schaukeln des Waggons ein.

Es ist tiefe Nacht, als der Zug die Eisenbahnstation Turkestan erreicht. Das prunkvolle Bahnhofsgebäude aus dem Jahr 1905 weist noch heute auf die große Bedeutung des Ortes auf der Strecke der Trans-Aral-Eisenbahn hin, welche im russischen Zarenreich Orenburg mit Taschkent verband, und die einzige Eisenbahnverbindung zwischen dem europäischen Teil Russlands und Zentralasien darstellte. Auf dem Bahnsteig herrscht ein lustiges Chaos wie auf einem zentralasiatischen Basar. Mit lautem Geschrei preisen zahlreiche Händler ihre Waren an. Geplärre dringt hinter hochaufgetürmten Getränkeständen hervor, Zigaretten und billiger Wodka werden angeboten, alte Frauen tragen Tabletts mit frischgebackenen und noch warmen Teigtaschen umher, andere bieten gegrillte Hühnchen, geräucherten Fisch, Nüsse oder Obst an. Der ganze Trubel dauert nur zehn Minuten, ich muss mich beeilen, um bei all diesen Eindrücken nicht versehentlich den Zug zu verpassen. Ich strecke meinen Kopf aus dem Fenster, als sich der Zug wieder in Bewegung setzt, schaue dem schummrig beleuchteten Bahnsteig mit seinen vielen Händlern noch etwas hinterher und lasse mir etwas frische Luft ins Gesicht blasen, bis alles in der Dunkelheit verschwindet.

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Früh am Morgen erreicht der Zug sein Ziel und den Endbahnhof Kyzylorda. Bereits jetzt sind die Temperaturen hier weit jenseits der 30 Grad. Auch Kyzylorda besitzt ein prunkvolles Bahnhofsgebäude aus der Entstehungszeit der Trans-Aral-Eisenbahn. Mein Taxifahrer allerdings braust schnell davon und ich kann nur noch aus dem Autofenster ein paar kurze Blicke von dem Gebäude erhaschen.

Kasachische Discomusik dröhnt aus den Lautsprechern des alten VW Passat, als mein Fahrer unter Missachtung sämtlicher Verkehrsregeln über die Straßen und durch die Kreisverkehre der Stadt rast. Selten habe ich so viele Beinahe-Unfälle in so kurzer Zeit erlebt, aber der Mann am Steuer neben mir erklärt mir lässig und unbeeindruckt, dass ich unbedingt den Syr-Darja, einer der beiden mächtigen Ströme Zentralasiens sehen muss.

Kyzylorda liegt am Ufer dieses bedeutenden Flusses, der aus Kirgisistan kommend, weite Teile Zentralasiens verbindet und in den nördlichen Aralsee mündet. Zusammen mit dem südlicher verlaufenden Amu-Darja wurde der Strom unter Stalin auf die Baumwollfelder Usbekistans geleitet, was zur Naturkatastrophe der weitgehenden Austrocknung des Aralsees führte. Aber das ist eine andere Geschichte. Mein Taxifahrer zeigt mir eine Badestelle etwas außerhalb der Stadt, ich solle mich etwas in dem Wasser abkühlen. An diesem Tag soll es 43 Grad heiß werden…

Philipp Dippl

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