Peer Teschendorf verbrachte über vier Jahre in Kasachstan, als Regionalleiter für Zentralasien der Friedrich Ebert Stiftung. Der Auftrag der Friedrich Ebert Stiftung in Almaty ist es, der sozialen, politischen Entwicklung Kasachstans zu helfen. Die FES ist aber auch außerhalb der Grenzen Kasachstans in Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan aktiv. Sein Faible für den Osten erklärt er sich durch das Aufwachsen in der DDR und die verlängerte Biografie der Elter, samt familiären Transformationsproblematiken. Warum die Arbeit in Zentralasien besonders spannend und der Abschied vom dynamischen Kasachstan sehr emotional für ihn sind, erzählte er in einem Bilanzgespräch.

Wie könntest Du deine vier Jahre in Almaty in einem Satz zusammenfassen?

Völlig unerwartet.

Das ist der Satz?

Ja. Weil egal, was man sich im Vorhinein an Informationen einholt, es eine einseitige Sicht bleibt. Denn Kasachstan ist so unglaublich vielseitig, bunt, abwechslungsreich und eben immer wieder unerwartet. Ich habe ganz viel entdecken können, was ich schlichtweg nicht erwartet hatte. Das ist für mich eine permanente positive Irritation.

Es ist faszinierend und hängt natürlich damit zusammen, dass sich hier unglaublich viele Kulturen treffen. Hier kannst du in einem Café sitzen und innerhalb einer Stunde alle Völker der Welt an dir vorbeiziehen lassen. Auch landschaftlich kannst du dich auf eine kleine Weltreise begeben, zwischen Bergen und Steppe oder Schnee und Wüstensand.

Ständig stößt man auf etwas, was man nicht erwartet hätte. Für mich ist es ein Land der Überraschungen.

War denn das Unerwartete bei der Arbeit in der FES hilfreich oder hinderlich?

Es hilft eigentlich. Denn es hilft, aus eingetretenen Pfaden wieder herauszukommen. Du merkst ganz schnell, dass man klassische Muster nicht ansetzen kann. Das kann man auch in der Kommunikation nutzen, wenn man versucht, die Brücke nach Deutschland zu bauen. Du kannst sehr schnell Stereotype zerlegen, indem du plastische Gegenbeispiele aufbaust. Damit weckst du auch Interesse, mit diesem Ungeahnten und vielleicht auch Ungewohnten. Es macht durchaus mehr Spaß, als im gewohnten Umfeld, weil man ständig neue Ansatzpunkte entdeckt um weiterzuarbeiten. Es bringt auch eine gewisse Dynamik rein.

Aber es ist trotz oder genau wegen dieser Vielfalt ja auch durchaus so, dass man in der alltäglichen Arbeit auf weit verbreitete Stereotype stößt, die man sich hier gegenseitig an den Kopf wirft.

Es betrifft nicht nur Stereotype. Generell ist der gesamte postsowjetische Raum, ein Raum der Mythen und Verschwörungstheorien. Stereotype sind nicht per se schlecht, solange man bereit ist, sie immer wieder zu hinterfragen. Das Problem ist in Kasachstan, wie auch in Europa, dass zu viele wieder bemüht sind, die Welt in einfache Schemata aufzuteilen. Man nutzt Stereotype hierbei nicht nur dazu, um die Welt zu strukturieren und Neugier zu wecken, sondern um sich abzugrenzen, und das ist eine Gefahr. Wenn Nationalpatriotismus zur Abgrenzung mutiert, ist es problematisch. Man sollte den Wert eines bunt gemischten Volks schätzen.

Das geschieht doch zumindest auf offizieller Ebene?

In Kasachstan gibt es die offizielle Idee des eurasischen multiethnischen Landes. Das wird, meiner Meinung nach, aber noch nicht so richtig angenommen. Vieles ist sehr auf einer Symbolebene verhaftet: das sind große Feste, Feiertage, die noch nicht verwurzelt sind. Es gibt auch das Umgreifen von Homogenisierungsideen. Man sollte damit sehr aufpassen, denn man findet hierzulande, je nach Region sehr unterschiedliche Werte, Ideen, Temperamente, Sprachnuancen – das alles macht Kasachstan aus. Diese Vielgestalt wird nicht mehr so viel geschätzt. Das sieht man leider auch unter anderem an der abnehmenden Zustimmung zu gemischt-nationalen Ehen.

Das zeigen eure Umfragen?

Ja, eine Studie. Auch die jüngste Jugendstudie (DAZ berichtete) zeigt ähnliche Abgrenzungserscheinungen. So stehen bei der Frage nach „unerwünschten Nachbarn“ an zweiter Stelle Oralmanen (Rückkehrer kasachischer Diaspora), die selbst ethnische Kasachen sind, aber von „außerhalb“ kommen.

Hat sich das im Vergleich zu früher geändert?

Ja, diese Abgrenzungsphänomene sind in den letzten Jahren stark von außen auch nach Kasachstan gedrungen. Zu Beginn meiner Zeit war das nicht so ein Thema.

Diese Phänomene gibt es ja überall, sie sehen dann nur unterschiedlich aus. Wir haben das in Europa ja auch, dort richten sich diese momentan verstärkt gegen Immigranten, Flüchtlinge, den Islam usw.

Solche Tendenzen könnten ein Gesellschaftsbild verändern, von pluralistisch zu ausgrenzend.

Gibt es neben solchen Problematiken auch Trends Richtung Demokratie?

Neben der Zuspitzung der Nationalitätenfrage, die man zum Beispiel an schnell entfachenden, ethnisch geladenen Nachbarschaftsstreitigkeiten, konservativen Wertbildern im Alltag und im Internet, einer gewissen ethnischen Entmischung beobachtet, kann man auf der anderen Seite sehen, dass in Kasachstan eine solidarische Gesellschaft heranwächst. Ich fand es sehr beeindruckend als im letzten Jahr bei der Flut in Karaganda, überregional sehr spontan selbstorganisierte Hilfs– und Solidaritätsbewegungen entstanden; oder als Batyrchan Schukenow starb, man sich massenweise Versammelte, um seiner zu gedenken. Da ist vieles, was die Gesellschaft gut zusammenhält. Dass man einander hilft, ist etwas, was eine Gesellschaft in den Grundfesten ausmacht.

Das Sozialengagement hält also Einzug? Haben die Nichtregierungsorganisationen in Kasachstan auch mehr Zulauf?

Die NROs selbst eher nicht. Es gibt Bereitschaft zum Engagement nur nicht in dieser organisierten Form. Es sind vermehrt kleine selbstorganisierte Initiativen oder thematische Feste. Man interessiert sich für einzelne Themen. Das ist der Trend, den wir auch in Deutschland haben. Engagement in festen zivilgesellschaftlichen Strukturen geht bei jungen Leuten deutlich zurück. Sie interessieren sich eher für ein themenbezogenes, spontanes Engagement. Besonders in Ballungszentren kann man Bewegung erkennen. Hier in Almaty gibt es Leute, die ihren Hof begrünen, Naturschutzgebiete oder historische Gebäude schützen wollen.

Wie ist da das Verhältnis mit staatlichen Strukturen?

Es gibt hier leider eine Kluft zwischen Staat und Bürger und wir versuchen eine Brücke zu schaffen. Die Bürger hier haben nicht so gern viel mit dem Staat zu tun und der Staat glaubt nicht wirklich, dass sich Bürger zum Guten engagieren können. Die bürgerliche Zurückhaltung und andererseits die Bürgererziehung sind vielleicht noch Überbleibsel von der Sowjetunion.
Steuern zahlen als ein sehr abstraktes Instrument der Umverteilung von Mitteln braucht hierzulande wahrscheinlich noch eine Weile, um etabliert zu werden. Leute können aber sehr schnell verstehen, was gut ist für sie oder ihre Umgebung, wenn es sie direkt tangiert. Es ist auch durchaus eine Tradition, sich für die Umgebung oder soziale Einrichtungen einzusetzen bzw. sich gegenseitig zu helfen. Auch wir versuchen in unserer Arbeit hierfür positive Beispiele zu schaffen und in Richtung Vertrauensgewinn zwischen Staat und Bürger zu arbeiten.

Was sind deine persönlichen Höhepunkte in der Arbeit der letzten vier Jahre?

Es gibt zu viele, als dass ich nur eine Errungenschaft nennen könnte. Es gibt immer wieder schöne Projekte und sehr dankbare Menschen, und daran sieht man insbesondere, dass es etwas gebracht hat. Bei einem Jugendprojekt zum Beispiel, waren junge Aktivisten im Parlament und lernten seine Funktionen kennen, arbeiteten mit Abgeordneten zusammen und brachten ihre Wünsche ein, bis hin zur tatsächlichen Gesetzesänderung. So direkt kann Engagement sich auswirken.

Auch in die Jugendstudie, die dieses Jahr herauskam steckten wir viel Herzblut und Arbeit. So konnte man auch den direkten Dialog mit der Zielgruppe selbst stärken und bei zugehörigen Veranstaltungen mit ihnen unmittelbar in Verbindung treten und sehen, wie bedeutend diese Auseinandersetzung tatsächlich ist.

Historische Filmvorführungen mit geladenen Zeitzeugen sind oft auch sehr berührend gewesen.

Insgesamt sind es viele unterschiedliche Momente, an die ich gern zurückdenke – viel Positives.

Meist also die emotional aufgeladenen Ereignisse?

Natürlich, klar. Das ist das, was einem nahegeht und wofür man den Job eigentlich auch macht. Das ist nicht nur eine Konferenz nach der anderen. Sondern es ist ganz konkret. Jetzt machen wir ein Projekt mit der Stadt Duisburg einem kasachischen Verein für Menschen mit Behinderungen und einem Designer aus Kasachstan, der Designprodukte und Arbeitsanleitungen für eine Behindertenwerkstatt entwickeln wird. Der Erlös aus dem Produktverkauf soll weiterhin in die Entwicklung der Werkstatt reinvestiert werden.

In Karaganda fand kürzlich eine Veranstaltung zum Tag der Opfer der Repression statt (DAZ berichtete), wo wir zusammen mit dem Archiv des Präsidenten Forschungsergebnisse zu Kasachen aus deutscher Kriegsgefangenschaft vorstellten, die als Verräter in sowjetische Lagerhaft kamen, nun aber in Zukunft rehabilitiert werden sollen. Wir unterstützen das Archiv momentan bei der Recherche und Informationsbeschaffung auf dem Weg zur Rehabilitierung.

Bleibst du auch weiterhin exotisch, oder erwartet dich die gediegenere Berliner Stiftungsordnung?

Es wird sicherlich nicht gediegen, da ich der Referent für die Ukraine, Weißrussland und Russland sein werde. Ich freue mich schon, in der Region unterwegs zu sein.

Ich gehe auch davon aus, dass es nicht mein letzter Auslandsposten war. Ich würde gern wieder in den postsowjetischen Raum, da mich sehr viel mit der Gesamtregion verbindet; ob es so kommt, weiß ich nicht. Kasachstan wird mich sicherlich nicht so schnell loslassen. Ich erwische mich dabei, einen gewissen Patriotismus entwickelt zu haben.

Was verbindet einen Deutschen mit dieser Region?

Neben meiner persönlichen DDR-Biographie finde ich, dass die Deutschen ein wenig zwischen den Fronten hängen, sie sind nicht so auf das Individuum fokussiert wie die Amerikaner. Man will mehr Gesellschaft, das Gemeinwesen in Vereinen und Clubs. Das Romantische an Russland spricht deshalb nicht umsonst den sehnsüchtigen Teil in uns an. Kasachstan ist zwar nicht Russland, aber trotzdem gibt es hier viel Sowjetisches im Mix mit viel anderem. Die Frage, wie man sich entwickelt und aus diesen unglaublichen Brüchen in den Biographien herauskommt, finde ich im postsowjetischen Raum so spannend.

Hast Du einen Ratschlag für deine Nachfolgerin Henriette Kiefer?

Stets für alles offen bleiben. Man kann sehr schnell in dieser Region zynisch werden. Wenn man will, kann man vieles sehr negativ sehen – Gesetzesänderungen etc. Man kann aber auch alles übertrieben positiv sehen. Beides lässt sich gut begründen. Beides muss man deshalb akzeptieren und berücksichtigen, um hier voranzukommen und etwas zu bewegen.

Das Interview führte Julia Boxler.

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