Warum in die Ferne schweifen, wenn das Dings doch so nah ist? Antwort: Weil die Dinge in der Ferne romantischer wirken als sie, bei Nähe betrachtet, wirklich sind.

Aus unerfindlichen Gründen hatte ich angenommen, dass Orgelbauer nur oder zumindest vor allem auf der Alm anzutreffen wären. Ich stelle mir ein Heidi-Dorf auf der Alm vor, Mütterchen in altertümlichen Schürzen und Holzschuhen rühren im Sahnetopf, melken die Kühe mit der Hand, und die Herren hüten entweder die Ziegen oder schmirgeln an Orgelteilen, die sie nach der Vesper, in der sie auf die Berggipfel schauen, während über ihnen der Adler kreist, mit Ruhe und Bedacht zur Orgel zusammensetzen. Hach, was für ein Idyll!

In solch einer Orgelwerkstatt hätt´ ich gern meine eigene Orgel anfertigen lassen. Ich hatte mir auch schon eine Werkstatt in Süddeutschland ausgeguckt, die vor meinem geistigen Auge die genannten Anforderungen erfüllt, telefonisch einen Auftragsrahmen abgesteckt und die Bedingung meinerseits verabredet, an meiner Orgel mitbasteln zu dürfen, als eine Art Praktikum. Morgens würde ich mir meine Kuhmilch selbst melken, Hand anlegen, dann in den Bergkäse beißen, ins Alphorn tuten, die Ziegen eintreiben (oder was man mit Ziegen so macht auf der Alm), um dann in die Werkstatt zu schreiten und den ganzen Tag zu schleifen und zu schmirgeln. Herrlich!

Es kam natürlich anders. Erstens handelte mich der Orgelbauer darauf herunter, dass ich maximal ein bisschen zugucken dürfe, so einen Tag lang. Zweitens gingen mir der Platz und das Geld für eine eigene Orgel aus, weswegen mir drittens auch die Zeit ausging, dieses Projekt umzusetzen. Weswegen ich mir aber den Trugschluss vom romantischen Orgelbauern auf der Alm bewahren konnte. Stellen Sie sich meine Enttäuschung vor, wenn ich mit meinem Säcklein Geld zur Alm gereist wäre, um dann in einem Gewerbegebiet eine hochmoderne Werkstatt vorzufinden! Nun hat mir zuletzt ein Geschäft in Köln den letzten Rest meiner romantischen Vorstellung gestohlen. Ich fuhr mit der Straßenbahnlinie 1 von meinem Stadtteil in die City, schaute so aus dem Fenster und sah – ein Orgelgeschäft. Häh? Ein Orgelbauer? In Köln? In meinem unspektakulären, wenig romantischen Stadtteil? In einem Ladenlokal? Eingereiht zwischen anderen Geschäften des alltäglichen Gebrauchs? Kann nicht sein!

Auf der Rückfahrt guckte ich noch mal ganz genau hin. Und musste feststellen: Ist aber so. Und klar, bei näherem Hindenken liegt es auf der Hand, dass man zum Orgelbauen nicht extra auf eine Alm ziehen muss. Da habe ich wohl den Begriff Orgelbauer zu wörtlich genommen. Überhaupt kommt mir mein Einfall jetzt total absurd vor. Aber da nun schon mal ein Orgelbauer in meiner Nähe ist, bin ich vielleicht auch gar nicht mehr so weit von einer eigenen Orgel und einem Praktikum entfernt. Nach dem ersten Schock der Entzauberung kommt so etwas wie Freude und Hoffnung auf. Noch ist mir die Sache aber nicht geheuer, und ich schleiche wie die Katze um den heißen Brei. Ich klammere mich an dem letzten Fünkchen Illusion fest, dass Orgelbauer nette und gemütliche Menschen sind. Was ist, wenn der hiesige Orgelbauer ein unsympathischer Wicht ist, der seine Angestellten ausbeutet? Ich stelle mich vorsichtshalber darauf ein. Abschied tut immer ein bisschen weh. Auch von Dingen, die es nie gegeben hat.

Julia Siebert

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