Eigentlich wäre ich gerne eine waschechte Demokratin. Aber noch viel lieber will ich immer so ganz und gar ehrlich und authentisch sein. Das schließt sich in diesem Fall leider aus. Ich entscheide mich fürs Ehrlichsein.

Unsere Kanzlerin fragt uns seit ein paar Wochen, wie wir künftig leben, lernen und arbeiten wollen. Jeder kann seine Antworten ins Netz einspeisen, aber umsetzbare Konzepte seien gefragt und keine wissenschaftlichen Abhandlungen, komplexe oder simple Meinungsspiegel. Bitte schön! Au ja, da habe ich viel beizutragen, fand ich sofort, denn konzeptionelle und strategische Arbeit ist mein Steckenpferd. Wenn es darum geht, Deutschland umzukrempeln, gilt kein Zaudern und Zögern, und ich setzte mich sogleich an meinen Arbeitsplatz. Jedoch wollten die Konzepte nicht gar so geschwind wie gedacht auf dem Bildschirm erscheinen. Seit Wochen bastel‘ und fummel‘ ich an meinen Vorschlägen herum, verliere mich in den eben ausdrücklich nicht erwünschten Abhandlungen, um dann immer wieder festzustellen, dass es nämlich gar nicht so leicht ist, Lebenskonzepte zu erstellen, die durchdacht sind, die verschiedene Bevölkerungsgruppen, Interessenslagen, regionale Unterschiede und so was alles berücksichtigen, trotzdem kurz und knapp ausfallen, neu, umsetzbar und so überzeugend aufbereitet sind, dass sie den politischen Meinungsbildungsprozess überleben. Herrje!

Aber ich will als Bürgerin nicht auf der faulen Haut liegen, und wenn mir schon eine Gelegenheit geboten wird, mich zu beteiligen, muss ich diese auch wahrnehmen. Doch ich wurde jäh in meinem konzeptionellen Eifer gestoppt, als ich las, dass die Vorschläge nicht von Experten bewertet werden, sondern – vom Volk! Och nöö! Mit dem Volk habe ich es nicht so, ehrlich gesprochen. Partizipation find ich gut, aber am liebsten nur von ausgewählten Personen. Und ich dachte, damit hätt´ ich meinen Demokratiesinn bestens bewiesen. Nee, eben nicht, sagt Ingo, Partizipation schön und gut, aber Partizipation ist noch längst nicht Demokratie. Die Menge, und da führt kein Weg dran vorbei, will und muss einbezogen werden, es brauche einen mediengestützten öffentlichen Diskurs über grundlegende Themen! Mist!

Nachdem ich den ersten großen Schrecken überwunden habe, dass es zur Demokratie dazugehört, dass das Volk einbezogen wird, finde ich immer mehr Gefallen an dem Schweizer Modell, der Volksabstimmung. Denn alle paar Jahre ein Kreuzchen für eine Paketlösung aus guten, halbgaren und schlechten Ideen zu setzen ist mir zu wenig politische Beteiligung. Das Ding mit den eigenen Konzepten stellt sich als arg kniffelig und sehr aufwändig heraus. Und wenn ich alle paar Wochen zu ausgewählten Fragen mein Ja oder Nein einreichen dürfte, wäre das doch nach meinem Geschmack. Die anstehenden Abstimmungen, die mir meine Schweizer Freunde aufgelistet haben, finde ich spannend wie einen Krimi. Da würde ich auch gern ein Wörtchen mitreden, und wenn es sich nur um ein Ja oder Nein handelt. Zwar stört mich immer noch, dass da auch die anderen mitmachen dürfen, aber nun gut.

Und endlich weiß ich, was ich der Frau Kanzlerin vorschlagen kann: Ich will auch so ein Abstimmungsdings wie in der Schweiz. Und wenn das Volk meinem Vorschlag zustimmen täte, wäre ich vielleicht sogar bereit, das Volk gar nicht mehr so schlimm zu finden und dann wäre mein Weg hin zur Demokratin nicht mehr gar so weit. Sie sehen, es gibt Hoffnung!

Julia Siebert

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