Die European Humanities University (EHU) in Minsk wurde 2004 aus politischen Gründen geschlossen. In der litauischen Hauptstadt Vilnius hat die weißrussische Universität vor einem Jahr wiedereröffnet. An der neuen EHU formiert sich eine junge, entschlossene Opposition gegen das Regime von Alexander Lukaschenko.

Wenn Artsjom auf das vergangene Semester zurückblickt, denkt er nicht an grauen Studienalltag, sondern an politisches Abenteuer. Der 21-jährige Weißrusse, der an der European Humanities University (EHU) in Vilnius studiert, hat nach den Wahlen in seinem Heimatland für Demokratie gekämpft – und dabei Kopf und Kragen riskiert: „Als sich Alexander Lukaschenko am 18. März zum Wahlsieger erklärte und seine Präsidentschaft verlängerte, habe ich in Minsk auf der Straße demonstriert. Fast hätte mich die Polizei festgenommen und ins Gefängnis gesperrt, ich konnte nur ganz knapp entkommen.“ Dass ihm die weißrussischen Behörden dicht auf den Fersen waren, hat er von einem Freund erfahren: „Die Polizei hat mein Zimmer in Minsk durchsucht, als ich nicht da war. Ich habe eine Nachricht aufs Handy bekommen und bin sofort aus Weißrussland geflüchtet.“ Die Flucht hat Artsjom zuerst nach Moskau geführt. Von dort ist er mit dem Flugzeug zurück in seine Studienstadt Vilnius geflogen. Dort formiert sich an der EHU eine politische Jugend, die wie Artsjom auf einen baldigen Machtwechsel in Minsk hofft – und das Ende der so genannten „letzten Diktatur Europas“ herbeisehnt.

Dem Regime ein Dorn im Auge

Die EHU, an der Artsjom im zweiten Semester Politik studiert, ist in der litauischen Hauptstadt eine Universität im Exil. Im Oktober 2004 wurde die sozialwissenschaftlich orientierte Hochschule, die sich ursprünglich in Minsk befand, auf staatlichen Druck hin geschlossen „Wir waren dem Regime von Alexander Lukaschenko ein Dorn im Auge“, erklärt Anatoli Michailow, Direktor der EHU. Die Schließung der Universität war das Resultat eines längeren Konflikts zwischen Michailow und der weißrussischen Regierung: „Der Bildungsminister hat mich im Januar 2004 aufgefordert, in den Ruhestand zu gehen. Sie wollten an meiner Stelle einen regimetreuen Direktor in der EHU einsetzen.“ Als Michailow die Rücktrittsforderung in den Wind schlug, erzwang das Kulturministerium kurzerhand die Schließung der Uni: „Der Staat hat uns das Gebäude, in dem die EHU untergebracht war, entzogen. Das bedeutete für die Universität in Minsk das Ende.“ Die mehr als 1000 Studenten saßen daher im Wintersemester 2004 sprichwörtlich auf der Straße.

Um seinen Studenten ein neues Zuhause zu verschaffen und den Geist der EHU zu erhalten, hat Anatoli Michailow alle diplomatischen Hebel in Bewegung gesetzt. Er traf sich mit zahlreichen europäischen Staatschefs und warb um Unterstützung für seine Universität. Schließlich erreichte er die finanzielle Hilfe der Europäischen Union und fand eine Unterkunft für die EHU in der 170 Kilo-  meter von Minsk entfernten litauischen Hauptstadt Vilnius: „Seit Februar dieses Jahres haben wir in Litauen den offiziellen Status einer Universität“, sagt der Direktor. Bereits im vergangenen Herbst eröffnete die EHU die Tore in Vilnius und nahm zunächst 171 Studenten auf, die jetzt das zweite Semester im Exil abgeschlossen haben: „Wir hoffen, dass wir in Zukunft noch mehr Studenten unterbringen können.“ Dazu wird die EHU zunächst ein eigenes Gebäude brauchen. „Zurzeit nutzen wir noch die Räume der Mykolis Romeris Universität. Wir sind leider nur zu Gast und nicht ganz unabhängig“, bedauert Michailow.

Nomadisches Studentenleben

An einem Freitagmorgen in der Mykolis Romeris Universität im Norden von Vilnius: Artsjom und elf andere Politikstudenten sind auf der Suche nach ihrem Unterrichtssaal. „Wir leben an dieser Universität wie Nomaden“, erklärt die 21-jährige Studentin Arina. Jede Woche ändert sich für die Studenten der EHU der Stundenplan, jede Woche haben sie in anderen Räumen der litauischen Privatuniversität Seminare und Vorlesungen. „Wir erfahren immer erst am Montag, wie unsere Woche aussehen wird“, sagt Arina, die fließend Deutsch spricht. „Also müssen wir flexibel sein“, unterstreicht sie den provisorischen Charakter, den die EHU im Augenblick noch hat.

Endlich haben die Studenten ihren Raum gefunden, auch der Dozent trifft mit einigen Minuten Verspätung ein. Andrej Stepanow lehrt Soziologie. Der 26-Jährige, der eigentlich in Minsk lebt, kommt wochenweise nach Vilnius, um sein Wissen weiterzugeben. „Ich möchte, dass meine Studenten lernen, unabhängig zu denken. Das Wissen, dass ich vermittle, soll ihnen im Leben weiterhelfen“, so der Soziologe. Heute steht eine Einführung in die Geschichte der Philosophie auf dem Programm: Platon, Aristoteles, Hobbes und Machiavelli werden im Schnelldurchlauf besprochen, die Studenten diskutieren eifrig.

„Das Wichtigste, was unsere Studenten lernen sollen, ist die Kunst des Dialogs“, erklärt Anatoli Michailow die Philosophie der EHU. Er möchte, dass die jungen Weißrussen während ihres Studiums eine europäische Kommunikationskultur erlernen. „Der Grundgedanke dieser Universität besteht in einer Annäherung Weißrusslands an Europa“, so Michailow, der die EHU 1992 mitgegründet hat. Ein Projekt, dass das Misstrauen der weißrussischen Regierung hervorgerufen hat: „Es hat sich gezeigt, dass die Westler im Herzen von Minsk eine zukünftige Landeselite vorbereiten wollen. Und was soll aus den Studenten der übrigen weißrussischen Hochschulen werden? Die werden dann zu Dienern eben dieser Elite“, empörte sich Präsident Alexander Lukaschenko bei einer Rede an der Universität von Brest, bei der er die Schließung der EHU rechtfertigte.

Eine gemeinsame Sprache finden

Anatoli Michailow glaubt daran, dass die Studenten an seiner Universität wichtige Prinzipien erlernen, um in Weißrussland Verantwortung übernehmen zu können, sollte in dem Land eines Tages eine demokratische Wende stattfinden: „Für die Demokratie ist es unerlässlich, dass wir immer wieder von Neuem versuchen, eine gemeinsame Sprache zu finden“, erklärt Michailow, der übrigens in Deutschland promoviert hat – über den Philosophen Martin Heidegger. „Diese gemeinsame Sprache muss relativ einfach und konkret sein. Wir sollten uns vor abstrakter Propaganda hüten“, so der Direktor der EHU. Für seine Bemühungen um Verständigung wurde Michailow 2004 in Weimar mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet.
Artsjom gehört zu denen, die das Ende der „letzten Diktatur Europas“ gar nicht erwarten können. Er selbst hat schon konkrete Zukunftspläne: „Ich studiere Politik, weil ich in meiner Heimat etwas verändern will. Nach dem Studium möchte ich selbst Präsident eines demokratischen Weißrussland werden.“

Von Christian Lindner

01/09/06

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