Der Literaturwettbewerb „Wir sind Fremde“ richtet sich an russlanddeutsche Kinder und Jugendliche in Deutschland. Texte darüber, wie die 12- bis 20-Jährigen sich und ihr Lebensgefühl wahrnehmen, sollen so entstehen. Noch bis zum 1. Juli können Einsendungen an den norddeutschen „Geest-Verlag“ geschickt werden. Alfred Büngen, 51 Jahre alt, studierter Germanist und Pädagoge, ist Leiter und Inhaber des Buchverlages. Im Interview beantwortet er Fragen rund um den Wettbewerb und das Thema Spätaussiedler und Migration.

Herr Büngen, sie veranstalten einen Wettbewerb für russlanddeutsche Jugendliche in der Bundesrepublik. Findet diese Ausschreibung zum ersten Mal statt?

Speziell für russlanddeutsche Jugendliche wird dieser Wettbewerb erstmals durchgeführt. Allerdings hat der Geest-Verlag in Zuammenarbeit mit anderen Institutionen bereits verschiedene Wettbewerbe dieser Art zur Integrationsarbeit mitorganisiert. Es wurden eine Vielzahl von Schulen und Zeitungen angeschrieben, außerdem Handzettel verteilt, um Werbung zu machen.

Von wem stammt die Idee für diesen Wettbewerb, und was soll erreicht werden?

Der Plan entstand in enger Zusammenarbeit zwischen dem Geest-Verlag und dem Literaturkreis der Deutschen aus Russland, vor allem in Gesprächen zwischen Agnes Giesbrecht, der Vorsitzenden, und mir. Es ist dringend notwendig, Jugendliche dazu anzuregen, ihre Erfahrungen und Meinungen aufzuschreiben. Dies kann und muss die Basis sein, wenn die politischen, wirtschaftlichen und pädagogischen Kräfte über Migration diskutieren wollen. Die Texte sollen der Öffentlichkeit, Politikern, Pädagogen und den Verantwortlichen aus Politik und Wirtschaft das Denken und Fühlen der Jugendlichen zeigen. Daher sind viele Lesungen, zum Beispiel in Schulklassen, möglichst mit den Jugendlichen zusammen, geplant. Außerdem halte ich das Schreiben der jungen Leute für äußerst wichtig, damit sie sich dabei selbst ihrer Situation und ihrer Position bewusst werden. Wir wollen die Texte nicht als Forschungsmaterial.

Die Schreibform war frei wählbar, welche wurden hauptsächlich genutzt? Worum geht es in den Texten und Erzählungen?

Typisch sind Berichte, von Sachdarstellungen bis hin zu Tagebucheinträgen. Von den im engeren Sinne literarischen Formen wird das Gedicht bevorzugt. Die Jugendlichen thematisieren in ihren Beiträgen sehr deutlich ihre Situation in Deutschland. Auffällig ist dabei, dass sie von zum Teil heftigsten Ausgrenzungen berichten, aber stets betonen, dass sie sich integriert fühlen. Eine Widersprüchlichkeit, die sich durch fast alle Texte zieht. Dieses Verhalten ist vielleicht Teil ihres „russlanddeutschen Denkens“, das Leid zu ertragen, stets das Beste aus der Situation zu machen, selten aber offen zu protestieren. Ich arbeite viel mit ausländischen Jugendlichen in der Bundesrepublik, doch eine solche Widersprüchlichkeit habe ich noch bei keiner anderen Gruppe erlebt.

Mit wie vielen Teilnehmern rechnen Sie?

Da fehlt mir zur Zeit noch die Übersicht, da die Texte erst jetzt gegen Ende der Schulzeit eingehen. Ich rechne in etwa mit 100 Einsendungen. Damit alle noch ihre Manuskripte abgeben können, ist die Ausschreibungszeit bis zum 1. Juli verlängert worden. Heute zum Beispiel kündigte eine Lehrerin noch 20 Texte an. Deutlich zu bemerken ist aber insgesamt die geringe Anzahl von Teilnehmern. Der Hintergrund dabei scheint mir die Angst vieler eingewanderter Jugendlicher, aber auch Erwachsener und russlanddeutscher Organisationen zu sein, offen über die Thematik zu sprechen. Unzweifelbar bestehen erhebliche Migrationsprobleme, doch sie werden oft überhaupt nicht erwähnt. Zudem ist es auch häufig so, dass Lehrer, Sozialarbeiter etc. nur eine geringe Bereitschaft haben, die Thematik anzusprechen. Gelegentlich hat man das Gefühl, dass über die Integration der Russlanddeutschen zur Zeit ein Mantel des Schweigens gehüllt wird.

Von welcher Altersgruppe und aus welcher Region haben Sie die meisten Einsendungen erwartet?

Hier bestanden keinerlei Erwartungen. Vielmehr arbeiten wir mit den Texten, die – gleich aus welcher Region – eingehen. Viele kommen aber aus kleinstädtischen Gebieten von Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren. Die Betreuungspersonen sorgen dort verstärkt dafür, Migrantenkinder einzugliedern. Diese haben die Jugendlichen zumeist auf den Wettbewerb aufmerksam gemacht.

Was passiert mit den eingesandten Texten, gibt es etwas zu gewinnen?

Die Texte werden in einem Buch veröffentlicht. Mit diesem Buch sollen zudem zahlreiche Lesungen in der ganzen Bundesrepublik initiiert werden. Zu gewinnen gibt es nichts, denn es geht nicht um die besten literarischen Beiträge, vielmehr geht es darum, die Lebenssituation der Jugendlichen darzustellen. Der Gewinn für alle Beteiligten ist die Veröffentlichung in einem Buch, das später als Diskussions- und Arbeitsgrundlage dienen soll.

Welche Personen sitzen in der Jury?

Die Jury steht noch nicht endgültig fest. Auf jeden Fall werden es aber Frau Giesbrecht und ich und zwei weitere Schriftsteller sein, die aus dem Autorenkreis des Geest-Verlages kommen.

Wo kann man das fertige Buch beziehen?

Das Buch kann dann beim Geest-Verlag direkt, in jeder Buchhandlung und auch beim Literaturkreis der Russlanddeutschen gekauft werden. Das Projekt muss sich aus dem Verkauf der Bücher heraus selbst finanzieren, da es keine Sponsoren gibt. Wir wollen deshalb versuchen, das Buch so preiswert wie möglich herauszubringen, also zwischen 10 und 12 Euro. Es wird im Herbst erscheinen.

Wie lange arbeiten Sie schon beim Geest-Verlag? Haben Sie einen persönlichen Bezug zu dem Thema Russlanddeutsche bzw. Spätaussiedler?

Ich selbst habe den Verlag vor acht Jahren gegründet. Da er sich in seinem Untertitel auch als Verlag für „engagierte Literatur“ bezeichnet, sollen Texte zu wesentlichen Fragen in unserer Gesellschaft herausgegeben werden. Die Problematik der Integration von Aussiedlern ist ein solches Thema. Ich selbst habe aber keinen persönlichen Bezug dazu, außer dass ich mit einer Reihe von russlanddeutschen Autoren Buchprojekte durchführe und mir zudem aus meiner früheren Jugendarbeit bekannt ist, wie schwer es für russlanddeutsche Jugendliche sein kann, sich einzugliedern.

Herr Büngen, vielen Dank für das Gespräch.

Von Eva Hotz

09/06/06

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