Beim Verhören oder Verlesen kommen manchmal seltsame Dinge zustande. Kleine verwechselte Vokale oder verrutschte Zeilen machen die Welt noch spannender und unfassbarer, als sie auch so schon ist. Mit einer optischen Täuschung oder verzerrten Wahrnehmung à la Freud scheint alles möglich.

Heute befasse ich mich mit Sollbruchstellen. Das Phänomen interessiert mich als solches, ich liebe den Begriff und überlege, ob ich mich im nächsten Karneval als Sollbruchstelle kostümiere. An einer echten Karnevalistin muss das Kostüm aber sitzen und gut ausgearbeitet sein. Also bei Wikipedia nachgeschaut: Was macht eine Sollbruchstelle zur Sollbruchstelle, wie sind Sollbruchstellen charakterisiert, in welchen Lebensbereichen gibt es sie, und wie sehen sie überhaupt aus? Dabei begegnen mir allerhand wohlbekannte Varianten einer Sollbruchstelle an sich. Getränkedosen und sonstige Packungsöffnungsstellen, eben Perforation und so. Ach ja, natürlich! Auch die Lieblingssollbruchstelle meines Bruders, der Schwanzansatz der Eidechse, bleibt nicht unerwähnt. Und dann meine eigene Lieblingssollbruchstelle: Schokoladentafeln.

Ich hatte sogar mal einen Beschwerdebrief an einen international bekannten Schokoladenhersteller geschrieben, konstruktiv versteht sich, weil die Sollbruchstelle nicht durchgängig durch alle Schichten der neuen vielgepriesenen Sorte, konkret die Füllschicht, konkret: den Keks, ging. Beim Abbrechen eines Riegels hatte ich am Ende nicht den Riegel in der Hand, sondern einen Haufen Trümmer. Da ich aber gerade in der Endphase meiner Diplomarbeit war, konnte ich keinen zusätzlichen Stress gebrauchen.

Zudem bin ich eine notorische Petze, pedantische Moralapostelin und kritische Kundin, die stets und unaufgefordert zur Optimierung von allem und jedem beizutragen versucht. In den meisten Lebensbereichen ist das nicht so willkommen, in der freien Wirtschaft zur Steigerung der Produktqualität schon eher. Ich bekam zwar keine Medaille oder Riesenpackung Schokolade als Dankeschön, doch immerhin einen Antwortbrief. Das Problem sei bekannt, man arbeite daran. Na, Gott sei Dank, dann konnte ich ja wieder ruhig schlafen.

Aber auch als Expertin in Spezialgebieten darf man sich nicht selbstgefällig zurücklehnen und ausruhen, sondern soll sich stets weiterbilden, und so widme ich mich dem Abschnitt der Schokoladentafeln-Sollbruchstelle mit besonderer Aufmerksamkeit. „Schokoladentafeln besitzen Sollbruchstellen, damit sie bei der Explosion in viele Stücke zerreißen.“ erfahre ich. Wow! Diese Neuigkeit schlägt ein wie eine Bombe. Dann hatte das mit dem zertrümmerten Riegel ja damals seine Richtigkeit und er sollte nicht mit einem eindeutigen Klack handkantenscharf abgetrennt werden. Aber irgendwie kommt mir das doch spanisch vor.

Nochmal prüfen. Ach nee, huch, in der Zeile verrutscht. Wenn man die Satzbausteine richtig zusammensetzt, besitzen Schokoladentafeln Sollbruchstellen, „um sie leichter in mundgerechte Stücke teilen zu können.“ Die Explosion erfolgt erst zwei Zeilen tiefer und geht von den Eierhandgranaten aus. Jetzt ist wieder alles richtig zugeordnet, wie es die Gesetze der Physik verlangen. Schade eigentlich. Aber immerhin für einen kurzen Moment war die Welt beziehungsweise die Sollbruchstelle der Schokoladentafel aufsehenerregender, als sie wirklich ist. Und auf diese Momente kommt es ja an!

Julia Siebert

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