Der Berliner Ethnologe Philipp Frank Jäger verbrachte für seine Doktorarbeit einen Forschungsaufenthalt in Westkasachstan. In der DAZ berichtet er von seinen Eindrücken vom Leben in dem kleinen Dorf Zelinny.

Im Norwesten Kasachstans, direkt an der russischen Grenze befindet sich das kleine Dörfchen Zelinny, 120km nördlich von Aktöbe in der Region Martuk. Es ist eins von tausenden, die zur Zeit der Neulandkampagne Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre errichtet wurden. Diese Dörfer glichen sich enorm in den Baustrukturen, der wirtschaftlichen Ausrichtung und der politischen Organisation. Mittlerweile sind über fünfzig Jahre vergangen, in denen sich das politische System komplett gewandelt hat und neue Leitlinien ihre Spuren im ländlichen Raum hinterlassen. Wenig ist über Dörfer in Westkasachstan heute bekannt.

Bei der Unabhängigkeit Kasachstans gab es einen Bruch in der Landwirtschaftpolitik. Die Sowchosen als Staatsbetriebe wurden aufgelöst und privatisiert. Die Sowchosenarbeiter wurden arbeitslos und mussten sich entscheiden, ob sie weiter privat auf dem Land arbeiten oder in die Städte auf der Suche nach Arbeit ziehen wollen. Dieser Prozess der Land-Stadt-Migration setzte sich über die letzten zwanzig Jahre fort.

Häuser aus sowjetischer Zeit

Zelinny selbst besteht noch aus etwa vierzig Häusern, die allesamt aus sowjetischer Zeit stammen. Neue Häuser sind nicht dazugekommen, lediglich wurde angebaut. Äußerlich unterscheiden sich die Häuser kaum, was daran liegt, dass Baubrigaden die Häuser reihenweise errichteten und der Dorfrat sie an Sowchosenangestellte vergab. Lediglich die selbstgebauten Stallungen unterscheiden sich.

Die Bauernhöfe halten neben Schafen im Schnitt 10 bis 15 Kühe für den Verkauf. Die meisten Haushalte züchten Schafe nur für den eigenen Fleischkonsum, weil keine Mittel für den Abtransport auf die Märkte bestehen. Auch bei umherfahrenden Zwischenhändlern sind die Preise für Schafe zu gering. Milchprodukte wie Kumys, saure Sahne, Jogurt oder Butter werden nur für den häuslichen Gebrauch angefertigt. Ein Transport lohnt sich nicht. Zwar sind es nur 20 Kilometer Luftlinie bis zur Regionalstadt Martuk, doch muss ein großer Umweg in Kauf genommen werden, um den Fluss Ilek zu überqueren. Früher war es besser, meinen die Dorfbewohner kollektiv, weil die Verwaltung zur sowjetischen Zeit jedes Jahr im Sommer eine Holzbrücke errichtete, die bis zum Frühling Bestand hatte, als sie von den angestiegenen Wassermassen ganz oder teilweise weggespült wurde. Heute ist für so etwas, geschweige denn eine permanente Brücke kein Geld verfügbar.

Eine deutsche Straße

Zwar wurden einzelne kasachische Viehwirtschaften aus der Uferniederung des Ileks in die Anfang der 1960er Jahre errichtete Siedlung transferiert, doch bestand das Gros der Bewohner aus europäischen Ethnien. Unter ihnen waren viele Deutsche, die einen kompletten Straßenzug bewohnten. Obwohl die erste Welle von Deutschen bereits vor dem Ende der Sowjetunion emigrierte, erinnern sich die heutigen Bewohner an die Häuser, in denen sie wohnten.

Die Häuser, die von ihren Bewohnern teilweise selbst aufgebaut und/oder erweitert wurden, fanden schnell Käufer, wenn eine Familie ihre Abreise nach Deutschland ankündete. Die Bewohner schätzten das handwerkliche Können der Deutschen, das sich in den Häusern widerspiegelte. In der Erinnerung der Kasachen waren Deutsche für Präzision, Arbeitseifer und Zuverlässigkeit bekannt, was sie zu angesehenen Mitarbeitern machte. Es verwundert somit nicht, dass auch einer der Brigadiere deutscher Abstammung war. Ihr Wegzug wurde allgemein als Verlust für das Dorf wahrgenommen. Außer einer älteren deutschen Frau und ihrem Neffen gibt es nur noch eine ukrainische Familie, der Rest des Dorfes besteht aus Kasachen.

Von den Deutschen ist nur die siebzigjährige Olga (Name geändert) geblieben. Ihre drei jüngeren Geschwister sind nach Deutschland verzogen, doch Olga ist mit dem Land zu verwurzelt, um zu gehen. Über Briefe, Pakete und Telefon hält sie Kontakt zu ihren Verwandten. Heute lebt sie mit ihrem Neffen in einem einfachen Haus an Rande der Siedlung. In einem Dorf im Ural geboren, kam Olga als junge Frau erstmals zum Arbeiten in die Region und heiratete einen Russen. Bereits nach drei Jahren wurde sie zur Witwe und erzog ihren Sohn allein. Auch dieser starb früh, jedoch fühlte sie sich nicht einsam. Aus ihren Erzählungen wurde deutlich, dass sie neben ihrer Brigade und dem Nachbarschaftsnetzwerk, vor allem sich einer religiösen Gruppe zugehörig fühlte.

Ein Deutscher wirkte als freikirchlicher Pfarrer in Zelinny und veranstaltete Gottesdienste. Er schien sich mit der politischen Führung arrangiert zu haben, denn vor allem seine Musikstunden, in denen Kinder religiöse Lieder sangen und er sie auf der Orgel begleitete, übten eine hohe Anziehungskraft auf die Dorfjugend aus. Die Kirchengruppe durchbrach ethnische und soziale Grenzen in der Sowchose. Teils bis spät in die Nacht waren sie dort versammelt. Olga empfand in der Gruppe Verbundenheit und Anerkennung. Zu Olgas Bedauern löste sich die Kirchengemeinde auf, als die Menschen wegzuziehen begannen. Viele positive Momente in ihrer Erinnerung bleiben aber mit ihr verbunden.

Nicht nur Deutsche verzogen, auch die Angehörigen slawischer Gruppen begannen bereits in der Perestroikazeit Zelinny zu verlassen, ein Trend, der sich bis heute fortsetzt. Im Dorf gibt es neben den Viehwirtschaften keine Unternehmen. Eine Familie organisiert zwar einen Kleinhandel mit Grundnahrungsmitteln in der Garage; der ist aber nicht offiziell gemeldet, weil damit steuer- und baurechtliche Einschränkungen verbunden wären.

Im Dorf gibt es einige wenige Berufspendler, die wie im Fall einer Krankenschwester im Regionalkrankenhaus in Märtök arbeitet und nur zum Wochenende zu ihrem Mann nach Zelinny kommt oder wie im Fall zweier junger Männer im Schichtdienst arbeiten, wo sie vierzehn Tage auf der Arbeit sind und sich dann zwei Wochen zu Hause erholen und landwirtschaftlichen Tätigkeiten nachgehen.

Zusammenhalt in der Nachbarschaft

Enge Nachbarschaftsnetzwerke existieren, die auch ethnische Grenzen überschreiten. Nicht nur das Weiden der Tiere wird in Rotation gemeinschaftlich organisiert, auch Heu wird von den Dorfbewohnern selbst eingebracht. Bewohner mit funktionierenden Traktoren bringen Heu auch für andere gegen Geld oder Naturalien ein. Die gegenseitige Hilfe zeigt sich auch beim Warten von Gebäuden und technischen Gerätschaften. Weil das Geld für neue Ersatzteile nicht vorhanden ist, unterstützen sich die Männer beim Reparieren von Landwirtschaftsmaschinen und sowjetischen PKWs mit Ersatzteilen, indem sie alte Geräte ausschlachten und die Teile Nachbarn zur Verfügung stellen. Mit Rat und Tat stehen sich die Männer beim Richten der Technik bei. Die Hilfeleistung wird meinen Beobachtungen zufolge häufig nicht direkt ausgeglichen, sondern in ein bestehendes System von reziproken Tauschbeziehungen eingebunden.

Nur größere Wirtschaften in den Nachbardörfern heuern Landarbeiter, vor allem Lohnhirten an. Diese kommen vor allem aus Usbekistan und arbeiten illegal, weil die rechtlichen Rahmenbedingungen für Arbeitgeber mit einem Kleinbetrieb nicht zu erfüllen sind. Dies treibt die Arbeitsmigranten, die nur saisonal bleiben in Abhängigkeiten und Schmiergeldbeziehungen zu kontrollierenden Polizisten und Grenzern.

Die Viehwirtschaft erlaubt immer wieder Leerlaufzeiten, in denen sich die Dorfbewohner meist in gleichgeschlechtlichen Gruppen treffen. Frauen besuchen sich in den Häusern gegenseitig und unterstützen sich teilweise bei handwerklichen Tätigkeiten, wie das Verarbeiten der Wolle zu Filz und weiter in Kleidung oder Teppiche (fast ausschließlich ältere Frauen). Viel wichtiger ist die Kooperation der Frauen beim Zubereiten von Speisen zu Festen oder Feiern.

Die Männer im Dorf bilden informelle Gesprächsrunden in Garagen, Ställen oder auf der Straße. Sie besprechen dort Probleme und versuchen soziale oder ökonomische Schwierigkeiten auszuräumen. Mir gegenüber wurde wiederholt angegeben, dass ihre größte Sorge ist, dass die jungen Menschen Zelinny verlassen. Somit gibt es keine Zukunft, schlussfolgern die Dorfbewohner. Manche sehen die Probleme mit der Infrastruktur in Zusammenhang. Wenn es eine Brücke und asphaltiere Straßen gäbe, könnten sie ihre landwirtschaftlichen Produkte auf den Markt bringen und hätten ein stabiles Einkommen. Ein älterer Kasache, der vor dem Ende der UdSSR aus der Nähe von Orenburg nach Zelinny kam, meinte, dass wenn das Dorf an eine Gasleitung angeschlossen werden würde, wieder Menschen nach Zelinny ziehen würden.

Individuum und Gemeinschaft

Die Menschen fühlen sich allein gelassen, da sich der Staat aus der Landwirtschaft zurückgezogen hat und sie außer Stande sind, die strukturellen Probleme selbst zu lösen. Es herrscht Unverständnis darüber, dass der Staat in Westkasаchstan Öl fördert, aber nichts bei den Menschen ankommt. Mit Politik verbinden sie nichts Gutes und verweisen auf die verbreitete Korruption.

Olga fasste den Zustand mit „нет хозяина“ („net khozjaina“, dt. „kein Herr, Besitzer oder Inhaber“) zusammen. In der Sowjetunion war alles straff durchorganisiert. Jetzt ist jeder auf sich allein gestellt und fühlt sich ohnmächtig gegenüber den sozioökonomischen Gesamtumständen. Während Olga in den Erzählungen von früher benutzt den Plural „мы“ (wir) benutzt, kontrastiert sie dies in Schilderungen von heute mit „я“ (ich). Dies zeigt, dass die demokratische Reorganisation des Dorfes, die mit der Transformation der Landwirtschaft einherging, die Selbstwahrnehmung der Dorfgemeinschaft durch und durch verändert hat.

Durch den Wegzug der Bewohner Zelinnys ging vom alten Zusammenhaltsgefühl der Dorfgemeinschaft viel verloren. Dennoch sehen die Bewohner Zelinnys das Dorf nicht nur negativ. Sie würden gerne hier wohnen bleiben, fordern aber eine bessere Anbindung an den Markt. Sie schätzen ihre Nachbarn hier, die sie kennen und durch Feiern die Dorfgemeinschaft immer wieder festigen. Das Wichtigste überhaupt sei, wie der Aksakal (dt. Weißbart, Ältester) Kuanysch (Name geändert) angibt, „мирно жить, спокойно жить“ (mirno zhit’, spokojno zhit’, dt. friedlich leben, ruhig leben). Die Vertrautheit der Dorfgemeinschaft würden sie durch die allgegenwärtige Anonymität und die versteckten Gefahren in der Stadt verlieren, was ihnen wohl bewusst ist. Zelinny ist ein Mikrokosmos für sich, dessen Bewohner sich gegenseitig beistehen, welche Schwierigkeiten auch immer die Zukunft noch bringt.

Von Philipp Frank Jäger

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