„Freiheit ist nur teuer, wenn man sie nicht hat“, stellt Harry Walter resigniert fest. Bei seiner Geschichte zerreißt es einem schier das Herz. Der sowjetische Staatsapparat der 1950er Jahre vermag es fast mit all seiner in Teufelskreisen und Endlosschleifen angelegten Bürokratie, dem jungen, schlauen Schulabgänger Harry sämtliche Ambitionen unter endlosen Antragspapieren zu zerreiben und kleinzustempeln.

Er ist einer der Protagonisten in Herold Belgers Buch „Das Haus des Heimatlosen“. Auf den über vierhundert Seiten des Romans ist Harry aber nur ein Teil, der dritte Teil, einer Geschichte, die das Schicksal und das Leid der Aussiedlung der Wolgadeutschen ab 1941 erzählt. Dabei werden Familienschicksale miteinander verknüpft, in deren individuellen Zusammenhängen das große Ganze verwoben ist.

Eine fast unvorstellbare Zeit

Es ist Juni 1941, als Deutschland unter der Führung Hitlers im zweiten Weltkrieg die Sowjetunion angreift. Mit der Strategie des Blitzkriegs erhofft man sich an der deutschen Ostfront schnelle Gewinne, jedoch beginnt damit ein Krieg, der bis zur deutschen Kapitulation 1945 anhalten sollte und Abermillionen an Opfern forderte.

Bereits seit dem 18. Jahrhundert lebten auf russischem Territorium Gruppen von Deutschen, die dort während der Kaiserzeit von Katharina der Großen in Russland ansässig geworden waren. Zu diesen Gruppen gehörten auch die Wolgadeutschen, die sich entlang der Wolga, im Gebiet des heutigen Saratow niederließen. Sie beackerten das Steppenland, bauten Häuser und gründeten Dörfer, bis sie schließlich über Jahrzehnte und Generationen hinweg an der Wolga heimisch wurden.

Im Jahr 1941, unmittelbar nach dem deutschen Einmarsch, wurde in der Sowjetunion der Befehl erlassen, dass die Deutschen und damit insbesondere die Wolgadeutschen aus dem europäischen Teil des Landes auszusiedeln seien. Damit, wie es Belger in dem Roman „Das Haus des Heimatlosen“ an vielen Einzelschicksalen beschreibt, verwehte es die Menschen wie Sandkörner im Wind. Familien wurden nach und nach zerrissen, sie verarmten und viele ihrer Mitglieder starben. Unabhängig davon, welches Leben sie in der Sowjetunion zuvor geführt hatten oder wie treu sie dem Land mit der kommunistischen Partei gewesen waren: die Deutschen wurden zum Feind erklärt. Alle.

Drei Geschichten: David, Christian und Harry

Viele der Zwangsausgesiedelten wurden damals dem heutigen Territorium Kasachstans zugewiesen. Im Roman Belgers teilt auch der Protagonist David Ehrlich dieses Schicksal. Dank seiner medizinischen Ausbildung und wohl nicht zuletzt auch seiner vormaligen Parteitreue in der UdSSR trifft ihn ein verhältnismäßig glimpfliches Los: Ihm wird ein Landkreis zugeteilt, der aus mehreren Aulen besteht und den er medizinisch zu versorgen hat. Dort, am Fluss Ischim, denkt er oft an die Wolga zurück, nach deren Vertrautheit er sich sehnt. Die beiden Flüsse werden im Laufe des Romans immer bildlicher und, obwohl er sich dem Ischim lange fremd fühlt, stehen auch dessen Wogen bald symbolisch für die Freuden und Leiden des Feldschers.

Symbolisch für die Geschichte der zweiten Hauptfigur des Romans, Christian Ehrlich, ist hingegen die Kälte. Der jüngere Bruder von David und vormalige Lehrer kam nach dem Aussiedlungserlass zur Trudarmee und arbeitete sich dort bis auf die Knochen ab. Im sibirischen Winter wurde es ihm unter Zwang zur Aufgabe gemacht, im Wald Holz zu sägen.

Von diesen Erinnerungen, die eine allumfassende Kälte in ihm hinterließen, kann er sich nicht erholen, auch nicht bei David, der sich im Aul schließlich um ihn kümmert. Einzig seine Erinnerungen an die Heimat an den Ufern der Wolga vermögen ihm dort, einen wärmenden Gegenpol zum scheinbar nie enden wollenden Schneesturm in der Steppe des Auls zu geben.

Er ist es auch, der erstmals eine direkte Verbindung zum Titel des Buches aufbaut: „Der Deutsche zieht durch die Welt, sucht überall Wurzeln zu schlagen, er schafft sich eine Basis, richtet sich ein, baut ein Haus, trotzdem ist dies nicht seine Erde, bleibt er ein Fremdling, ein nicht Aufgenommener, ein Reisender, und sein Haus, wo immer es steht, ist das Haus des Heimatlosen, welches man ihm fatalerweise unbedingt wegzunehmen versucht.“

Immer wieder ist es die Heimat und das starke Bedürfnis nach einem schützenden Haus für die traute Familie, das für die Figuren im Roman so zentral ist und das heute schon fast altertümlich wirkt. Kann man diese Zurückgezogenheit aufs eigene Haus und die eigene Familie in einer Zeit von Postmaterialismus, Digital Nomads und schier endlosen Möglichkeiten des Seins überhaupt noch nachvollziehen – oder gerade in dieser Zeit wieder?

Anhand der Geschichte von Harry Walter, dem letzten Protagonisten, erzählt Belger schließlich von einer neuen Generation, der auch er selbst angehörte. Doch nicht nur das. Mit Harry berichtet Belger von seinen eigenen Erfahrungen, von der Ungleichheit, Ungerechtigkeit sowie der Aussichtslosigkeit der Abgestempelten.

So bleibt es Harry im Roman, der der beste Schulabgänger einer kasachischen Mittelschule ist, lange verwehrt, die Region zu verlassen, geschweige denn in Alma-Ata, der Hauptstadt am anderen Ende des Landes, zu studieren. Immer wieder werden ihm, schlichtweg aufgrund seiner Angehörigkeit zu den deutschen Sonderaussiedlern, Hindernisse in den Weg gelegt, die jedoch kaum überwindbar scheinen, insbesondere mit den Krücken, an denen er aufgrund einer Tuberkuloseerkrankung langfristig geht.

Unter anderem wird Harry dabei etwas so Simples verwehrt, wie ein normaler sowjetischer Pass, wodurch er ganz wesentlich in all seinen Entscheidungen eingeschränkt ist. Alle Einwohnenden der Sowjetunion seien gleich in der Ungleichheit, sagt er. Wenn die Staatsangehörigkeit also nach Artikel 15 der 1948er UN-Menschenrechtserklärung ein Menschenrecht ist, dann stellt sich die Frage: Wann ist ein Mensch ein Mensch?

Was der Roman nicht hergibt und warum man ihn trotzdem lesen sollte

Während ich mich dem Ende des Buches entgegenlese, merke ich, dass mir etwas fehlt. Es ist etwas ganz Grundsätzliches, nämlich eine weibliche Perspektive.

Man könnte nun sagen, dass es zahlreiche weibliche Figuren in diesem Roman gibt, und damit würde man durchaus Recht behalten. Neben den zahlreichen Müttern, Schwestern und Tanten, die im Gesamtbild der Familiengeschichten immer wieder Erwähnung finden, gibt es auch Frauenfiguren im Roman, die zentralere Rollen spielen, eingehender beschrieben werden und aktiv in das Geschehen eingebunden sind. Dazu gehören beispielsweise einige der kasachischen Frauen aus dem Aul, Christians zweite Frau Olkje oder Harrys Jugendliebe Bagira.

Zwar ist der Roman mit drei männlichen Hauptfiguren so angelegt, dass wenig Platz für „das andere Geschlecht“ zu bleiben scheint, jedoch hätte die allwissende Erzählstimme immer wieder Gelegenheit, dieses Narrativ zu brechen. Stattdessen finden im Roman bestenfalls Darstellungen ihren Platz, die die Weiblichkeit tiefgründig-sinnend verklären, und im schlimmsten Fall sind es wiederholte Stereotype der arbeitssamen, reinlichen, treuen und gehorsamen Hausfrau.

Nun könnte man sagen, dass dies nun mal vorrangig die Rolle der Frau in einer solchen Zeit war, und auch damit würde man vermutlich Recht behalten. Jedoch wird eine Außenperspektive dieser Rolle mit ihren ganz eigenen Sorgen und Leiden nicht gerecht. Es gibt zwar weibliche Figuren, eine weibliche Perspektive fehlt jedoch.

Trotzdem ist Herold Belgers „Das Haus des Heimatlosen“ ein Stück Zeitgeschichte von großer Tragweite. Für mein Empfinden könnte der Roman sogar die Lehrpläne an Schulen in Deutschland gut ergänzen, da er ein Licht auf das Schicksal der Deutschen als Minderheit im Ausland wirft, was wohl den meisten Menschen im deutschen Inland unbekannt sein dürfte. Zugleich reißt Belger mit seinem bildlichen, fesselnden Schreibstil die Gefühle von Lesenden mit und sorgt für tiefe Anteilnahme am Vergangenen. Diese Anteilnahme ist es letztlich, die die Welt ein bisschen kleiner macht und die Menschen einander näherbringt. Vielleicht nicht mehr im Vergangenen, aber hoffentlich in der Gegenwart.

Maria Glaser

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