Rezension von Diakon Kurt Reinelt Ass. Jur.
Dr. Anton Bosch legt auf 384 Seiten seine gut lesbare Geschichte sowie mit 68 Fotos und Dokumenten belegt die seiner Familie von 1934 bis 1974 vor. Bosch, inzwischen 90 Jahre alt, gilt zu Recht als einer der wichtigsten Historiker für russlanddeutsche Geschichte sowohl in Deutschland als auch weltweit. Ihm verdanken sehr viele russlanddeutsche Heimat-, Familien- und Religions-/Kirchen-Forscher viele Quellen, Quellenzugänge in die Archive und neueste Methoden- und Ergebnisdetails. Er hat diese Quellen und Methoden akribisch ermittelt, gesichert, ausgewertet und einem breiten Publikum öffentlich zugänglich gemacht sowie erläuternd vermittelt. Er hat fleißig und teamfähig in „seinen“ Vereinen und Institutionen maßgeblich mitgewirkt, mehrere mitgegründet, zeitweise geleitet und gleichsam „staatsmännisch-dienend“ gefördert. Zwei von diesen, das Bayerische Kulturzentrum der Deutschen aus Russland (BKDR) und der Historische Forschungsverein HFDR (nun HFDO), haben das Buch mitherausgegeben. Sein Leben erfolgte im Wesentlichen an zehn Orten, von denen ich die wichtigsten unterstrichen hervorhebe bzw. – in Doppelklammern (()) ergänzt in der folgenden Pressemeldung des BKDR Verlags:
„Dr. Anton Bosch, geb. am 28.10.1934, ist ein wichtiger Zeitzeuge seiner Epoche. Er stammt aus der ehemaligen deutschen Siedlung Kandel, die im 19. Jahrhundert in der Nähe von Odessa von deutschen Umsiedlern gegründet wurde. Er überlebte das stalinistische Terrorregime, die reichsdeutsche Besatzung der Ukraine, die ((ausführlich beschriebene)) Flucht vor der heranrückenden Roten Armee in den Westen ((Halle)) sowie die von den Sowjetmachthabern durchgesetzte massenhafte ((äußerst brutale und verlustreiche)) Rückführung in Lager ((Kilmes und Ischewsk in Udmurtien 1,000 km östlich von Moskau)) und Sondersiedlungsgebiete ((Karaganda)) der UdSSR. Auch die damit verbundene sozialpolitische Entrechtung in den Jahren der Kommandantur-Aufsicht (bis 1956) prägte sein Leben.
1974 gelang ihm ((über Gratieschty in Moldawien)) die langersehnte Ausreise in die BRD ((für nunmehr fünf Jahrzehnte in Nürnberg)), wo er schließlich 2009 für sein unermüdliches ehrenamtliches Engagement für die Belange der Russlanddeutschen sowie seine aktive Forschungstätigkeit und Publikationen das Bundesverdienstkreuz am Bande erhielt. In diesem Buch lässt er uns an dem spannungsreichen Leben seiner Familie bis zu deren Ausreise aus der Sowjetunion teilhaben.“
Die 384 Seiten gliedern sich laut Inhaltsangabe entlang der erwähnten Orte in neun Teile sowie je zwei Vor- und Nachspänne mit Seitenangabe: „Editorial zu Erinnerungen von Anton Bosch. 5 – Vorwort von Dr. Anton Reinbold (S. 9) – Teil 1. Sammellager Halle, Deportation, Kilmes (S. 13) – Teil 2. Repatriierte auf der „4. Baustelle“ Udmurtiens (S. 43) – Teil 3. Schule in Kilmes, Technikum in Ischewsk (S. 83) – Teil 4. Tawda-Transformatoren-Betrieb, meine erste Arbeitsstelle (S. 143) – Teil 5. Elektromonteur, Mechaniker und Ingenieur in Kilmes (S. 161) – Teil 6. Igra. Chef des Kraftwerks, die Hochzeit (S. 203) – Teil 7. Karriere in Karaganda. Abendstudium. Hausbau (S. 235) – Teil 8. Kampf um die Ausreise (S. 291) – Teil 9. Gratieschty – Wohnort in Moldawien und Ankunft in Friedland (S. 353) – Glossar (S. 381).“
An diesen Teilen orientiere ich mich im Folgenden: Auf S. 5 bis 8 berichtet Dr. Viktor Krieger im Editorial zusammengefasst für das ganze Buch die Familiengeschichte von Anton Bosch von 1930 bis 1974 und die soziohistorische Einordnung in die UdSSR. Die wichtigsten Stationen von Anton Bosch sind (1) Kandel nahe Odessa bis 1942, die Flucht nach (3) Halle, die ausführlich S. 43-83 beschriebene tragisch-brutale Deportation in die Sonderkommandantur von Udmurtien etwa 1.000 km östlich von Moskau westlich des Urals (1945-1955). Hier ging er zur Schule und arbeitete er in einem Tawda-Transformatoren-Betrieb in Kilmes (3 und 5), unterbrochen von einer Technikumsausbildung in Ischewsk (4). Anschließend arbeitete er im Kraftwerk in Igra (6) 100 km in Nord-Udmurtien und zog 1.000 km südlich nach Karaganda in Kasachstan (7) um hier eine Familie zu gründen sowie mit Prädikat ein sechsjähriges technisches Abendstudium zu absolvieren, ein Wärmekraftwerk zu leiten und als Abteilungsleiter für der Hochspannungsnetz zu arbeiten.
Über einen Umzug nach Gratieschty in Moldawien (8) kam er als 39-Jähriger 1974 schließlich per Bahn nach Westdeutschland, für eine Woche nach Friedland und dann für inzwischen über fünf Jahrzehnte nach Nürnberg. Von hier aus wurde er über Engagements in der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland einer ihrer führenden Netzwerker und Quellenforscher; er studierte noch einmal, und zwar mit Promotionsabschluss (Zeit-)Geschichte in Erlangen und konzentrierte sich dabei zunehmend auf die wissenschaftliche Herausgabe von Quellen, Fachartikeln und Büchern.
Vor über 25 Jahren habe ich als Lehrer und angehender Diakon über die Schriftstellerin Nelly Däs Herrn Bosch kennengelernt. Mich begeistern noch immer seine zuhörende väterliche Art, seine bescheidene vorsichtige Ausdrucksweise, seine Exaktheit in der Erläuterung von Fakten und Zusammenhängen sowie sein riesiges Hintergrundwissen zu Zeitgeschichte, Politik, Religion, Völker- und Charakterkunde. Von seiner großen Fachkenntnis als Techniker und Ingenieur hatte ich zwar gehört, aber erst durch diese Autobiographie im Detail kennen- und schätzen gelernt.
Sein Leben in Kandel, in Udmurtien und in Karaganda kann als stellvertretend für rund eine Million Russlanddeutsche gelten, die Deportation trotz des Umwegs über Deutschland sowie die Ausreisegeschichte ebenfalls. Letztere ist insofern besonders als er 1974 zu den ersten der rund zwei Millionen Aussiedler und Spätaussiedler gehörte und in Westdeutschland auf die rund 70.000 russlanddeutschen Landsleute traf, schon drei Jahrzehnte in Deutschland lebten, aber im Kern ebenfalls aus der Westukraine samt Bessarabien und Moldawien geflüchtet (offiziell „umgesiedelt“) und nicht in die UdSSR „zurückdeportiert“ worden waren.
Auf 15 Seiten deutet sich in der Autobiografie die tiefe „Untergrund-Religiosität“, die später in seine profunde wissenschaftliche Quellenarbeit in Archiven mündet und auch zu russlanddeutschen Märtyrern evangelischer, mennonitischer und besonders römisch-katholischer Konfession; letztere hat er für Prälat Dr. Helmut Moll „Zeugen für Christus: Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhundert“ zusammengetragen, mindestens 149 (Seite 254: 97+17+35) an Katholiken an Zahl, deren Seligsprechungsverfahren m. E. anstehen. Deren Namen sind später übergriffig auch unter anderen Autorennamen veröffentlicht worden.
Ein zweiter Band der Autobiografie für die Zeit ab 1975 bis heute. Dabei kann auf seine Literaturliste mit über 10 Büchern und vielen Fachartikeln zurückgegriffen werden, die Zusammenarbeit mit Archiven etwa in Odessa, Saratow und Archangelsk, mit der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, der Vorsitzender er lokal in Nürnberg-Fürth, Bayern- und Bundesweit er gewesen war, sowie mit vielen Fachkollegen*. Last not least haben mich Anton Bosch und seine Mitstreiter* für das seelsorgerliche Engagement in russlanddeutschen Schulklassen und Vereinen, in meiner schlesischen Familienforschung sowie in der russlanddeutschen Kirchengeschichte ermutigt und mit vielfältigen Tipps gefördert. Dr. Anton Bosch ist mir und vielen in seiner lesenswerten und exakten Schreib- und Vortragsweise, in seiner gütigen und versöhnenden Art, in seinem Fleiß und Altruismus ein großes Vorbild geworden. Seine angenehm bebilderte Autobiographie erklärt dazu die Grundlagen und ist an einem Wochenende lesbar.
Anton Bosch, Den Wirren des Schicksals trotzen, Autobiografie, ISBN 978-3-948589-51-6, Hardcover, 384 S., mit Fotos, Preis: 24,- EUR. Bestellmöglichkeiten: E-Mail-Adresse: kontakt@bkdr.de oder unter der Tel.-Nr.: (+49)911.89219599.