„Nicht nach oben schauen!“ lautet die ärztliche Anweisung, die mir jüngst erteilt wurde. Klingt zunächst banal, schön konkret und einfach ausführbar. „OK, kein Problem“ habe ich leichtfertig geantwortet. Aber was heißt das eigentlich?

Da ich einen Dauerschaden an der Halswirbelsäule habe, die ich wohl mit ins Grab nehme, bedeutet dies, dass ich dauerhaft – also nie mehr! – nach oben schauen sollte. Ja, gut. Meistens guckt man ja auch nach vorn oder unten. Oder? Durchforsten wir mal den praktischen Alltag und das restliche Leben nach Gelegenheiten, die sich oben abspielen.
Der Arzt hat mir mit einigen Beispielen auf die Sprünge geholfen: nicht die Fenster putzen! Ja, wie schön! Da wird mir doch ärztlich das Putzen verboten, ein schöneres Verbot könnte ich mir gar nicht vorstellen. Einverstanden! Nicht die Decke streichen!, ging es weiter. Ja, gut. Da ich das nicht mehrmals täglich mache, kann ich auch damit bestens leben. Nicht Rennrad fahren. Auch damit wird mir nicht in meine Leidenschaften eingegriffen. Yoga ist Gift! Schade zwar, das fand ich ganz gut, aber ich kann auch ohne Yoga leben. Nicht auf dem Sofa einschlafen, damit der Kopf nicht zur Seite abknickt! Schon schwieriger, sogar eine echte Herausforderung, weil ich grundsätzlich immer auf dem Sofa einschlafe. Aber jetzt habe ich eine Halskrause, die ich in prekären Situationen tragen kann, so auch in der Sofa-Einschlaf-Situation, so geht es. Was noch? Nicht auf den Bauch legen und aus dieser Lage heraus am Laptop arbeiten. Lässt sich vermeiden.

Diese Anordnungen kamen mir zunächst überschaubar vor, inzwischen gab es aber etliche Situationen, in denen mir das Nach-obenschauen wirklich gefehlt hat. Zuletzt mit Kollegen im Zug. Eine Kollegin erblickt in der vorbeiziehenden Landschaft eine schöne Burg, die auf einem hohen Berg steht. Alle schauen zu dieser Burg empor, nur ich nicht! Ich war kürzlich mit einem Bekannten im Wald, wir haben auf einem Naturlehrpfad Bäume kennen und, bestimmen gelernt, was man bekanntlich und, wie ich jetzt auch weiß, vor allem anhand der Blattform macht. Bei manchen Bäumen ist das aussagekräftige blätterbehangene Geäst ganz oben, so dass ich bei dieser Übung passen musste. Dann beim Tanken musste ich, um die Nummer meiner Zapfsäule zu erkunden einen gehörigen Abstand einlegen, damit der Blickwinkel noch in gesundem Verhältnis stand. Gestern bei der Beschau eines Ateliergeländes von einem Künstler gab es ein Baumhaus zu begutachten, dass – natürlich! – in der Höhe ist. Bis hin zu der Situation, dass man beim Friseur nicht zum Haarewaschen den Kopf ins Waschbecken strecken soll, usw. usw. Ich könnte jetzt endlos aufzählen, was ich mir künftig alles verkneifen muss, ich sage nur: Der nächtliche Blick in die Sterne!

Jetzt könnte ich aus der Not eine Tugend und aus dem Missmut eine Philosophie machen, die da in etwa besagt: Was man alles entdecken kann, was sich auf Augenhöhe abspielt, wenn man weniger nach oben schaut… Ich muss gestehen, ich empfinde es als sehr gewöhnungsbedürftige Einschränkung, bleibe zunächst beleidigt und fühle mich von den Hochsehern und den vielen herrlichen Dingen, die über Kopf stattfinden, ausgeschlossen. Und jetzt sag mir bloß keiner: Kopf hoch!

Julia Siebert

08/05/09

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