Was kann man Besonderes in einem Jahr machen, in dem 500 Jahre Reformation gefeiert werden? Eine Gruppe junger Erwachsener aus den deutschsprachigen Gemeinden Wolkendorf und Heltau in Rumänien war zwei Monate lang mit dem Kleinbus auf der Seidenstraße unterwegs, um evangelische Gemeinden im Jahr der Reformation zu besuchen. In der DAZ berichtet Pfarrer Uwe Seidner in mehreren Teilen von ihrer Reise, die von Rumänien über den Iran und Zentralasien nach China führte.
Mit Blick auf den 7.134 Meter hohen „Pik Lenin“ ging es über den Kyzyl-Art Pass (4250 m) nach Kirgisistan. Dass es wieder bergab ging, kam uns sehr willkommen, da uns die Höhenkrankheit in den vergangenen Tagen sehr zu schaffen gemacht hatte. Ab der Staatsgrenze veränderte sich die Szenerie schlagartig: Die karge Mondlandschaft Tadschikistans ging in eine grüne sanfte Gebirgslandschaft über. Im Hintergrund leuchteten die weißen Berggipfel des Tienschan Gebirges. Tienschan bedeutet auf Chinesisch „die himmlischen Berge“.
Jede gute Hochzeit beginnt mit Tränen
In Europa wird Kirgistan oft als „Insel der Demokratie“ verklärt. Zwar gelten die Wahlen als demokratisch, doch treten ebenso Fälle von Wahlmanipulationen auf. Es gibt Berichte über Repressionen gegenüber Oppositionellen, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten; Korruption ist ein großes Problem. Immer wieder kommt es zu Konflikten mit der usbekischen Minderheit im Land.
Ein gravierendes Problem, das es jedoch nicht nur in Kirgisistan gibt, ist Brautraub. Männer entführen junge Frauen und zwingen diese dann zur Heirat. „Jede gute Hochzeit beginnt mit Tränen“, heißt es im Volksmund. Dieser „nomadischen Tradition“ fallen noch immer tausende Frauen zum Opfer. Obwohl Brautraub in Kirgisistan als Straftat gilt, gehen Nichtregierungsorganisationen davon aus, dass fast 50 Prozent aller Ehen nach einem Brautraub geschlossen werden. Sie kämpfen dagegen an, dass Brautentführung eine kirgisische Tradition sein soll.
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Evangelisch am Fuße des Tienschan
Wir durchquerten Osch und Dschalalabad im Ferghanatal, wo es im Juni 2010 infolge der zweiten kirgisischen Revolution zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Kirgisen und Usbeken kam. Genaue Zahlen zu den Opfern gibt es nicht. Human Rights Watch geht davon aus, dass über 2.000 Menschen starben, während das kirgisische Gesundheitsministerium nur von 174 Toten sprach.
In der Nähe der kirgisischen Hauptstadt Bischkek erwartete uns Pfarrer Nikolai Baranow zum Gottesdienst in der evangelischen Gemeinde im Dorf Winogradnoe. Über 40 Leute waren zum Gottesdienst erschienen. Die Gemeinde blickt auf eine deutsche Vergangenheit zurück, doch die meisten Deutschen haben das Land in den neunziger Jahren das Land verlassen. Heute bilden vor allem Russen und einige Kirgisen den Kern der Gemeinde.
Baranow erklärte uns, dass die evangelische Kirche ihnen mehr Angebote und ein aktiveres Gemeindeleben als andere Konfessionen bieten könne: die Betreuung von Kindern und Jugendlichen, Ferienlage, Projekte mit Kindern mit Behinderung, Gefängnisseelsorge, Seniorenarbeit. Außerdem sei in einer kleinen Gemeinde der Zusammenhalt größer. Das mache die evangelische Gemeinde sehr attraktiv, so Baranow.
Eine deutsche Geschichte
Die evangelische Kirche in Kirgisistan hat eine über hundertjährige Geschichte. In den 1880er Jahren wurden die ersten deutschen Siedlungen gegründet. Es handelte sich vorwiegend um deutsche Siedler aus Russland, die den Wehrdienst im Heer des Zaren Alexander II. verweigerten. Sie wollten lieber als freie Bauern leben und zogen daher in die entfernteren und entlegeneren Gebiete des Reiches.
Ihre Siedlungen entstanden in fruchtbaren Tälern, wie im Talas-Tal oder im Tschüj-Tal. Seit 2000 ist Alfred Eichholz der Oberhirte der evangelischen Kirche in Kirgistan, die zurzeit etwa eintausend Seelen zählt. In Bischkek allein leben etwa dreihundert Seelen, die restlichen sind auf viele kleine Gemeinden in der Republik verstreut. Die älteste Gemeinde ist Ananjewo am Issyk-Kul-See. 2016 besuchte unser Bischof Reinhard Guib einige dieser Gemeinden. Dieser Besuch ist den Menschen in den Gemeinden lebhaft in Erinnerung geblieben.
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Pastor Nikolai Baranow, Pastor Nikolai Worobjow und seine Ehefrau Maria Becker, Referentin in der Bischofskanzlei, haben uns in den Tagen in und um Bischkek begleitet. Wir durften vieles mit ihnen erleben und konnten außerdem einige der Gemeinden besuchen. Sie erzählten uns von einem großen Unglück im Januar 2015, als in einer Nacht das Bethaus in Bischkek abbrannte. Auslöser war wohl ein Kurzschluss.
Mit dem Bau des ursprünglichen Bethauses begann man 1976, nachdem der Staat die evangelische Konfession wieder zugelassen hatte. Bis zu dem Zeitpunkt, als ein Großteil der Deutschen auswanderte, war es stets so voll gewesen, so dass die Leute draußen vor den Fenstern stehen mussten, um dem Gottesdienst folgen zu können. Heutzutage kommen noch rund 50 Leute zum Gottesdienst.
Der Wiederaufbau des Bethauses und des Gemeindezentrums ist dank der Solidarität vieler Glaubensgeschwister im In- und Ausland nun wieder im Gange. Die Gemeinde hofft, dass sie es schon 2018 wieder nutzen kann.
Unweit von Bischkek liegt die Stadt Tokmok, in der es ebenfalls eine evangelische Gemeinde gibt. Bis vor einem Jahr wurde sie von Andreas Kraft aus Deutschland als Pastor betreut, doch dann wurde Ausländern vom kirgisischen Staat der Predigtdienst untersagt. Heute widmet er sein ganzes Engagement der Arbeit mit behinderten Kindern. Für dieses Projekt konnte er sogar zwei Kirgisen als Lehrkräfte und Betreuer gewinnen.
Kinder mit Behinderungen werden in der kirgisischen Gesellschaft stark marginalisiert; sie sind unerwünscht. Diese Kinder haben kaum Chancen auf ein menschenwürdiges Leben. Viele Familien verbergen aus Scham ihre Kinder. In der Schule des evangelischen Gemeindehauses haben sie jedoch die Möglichkeit, eine Ausbildung zu erhalten. Momentan sind es zehn, doch immer mehr Eltern zeigen Interesse dran, ihre Kinder in dieses Zentrum zu bringen.
Die Mennoniten von „Rot-Front“
Wir fuhren weiter nach „Rot-Front“. Früher hieß das Dorf „Bergtal“ und wurde 1927 von deutschen Mennoniten gegründet. Die Mennoniten, eine protestantische Glaubensrichtung aus der Reformationszeit, kamen ab dem 18. Jahrhundert aus Preußen in die Gebiete der südlichen Ukraine und an die Wolga. Ende des 19. Jahrhunderts zogen sie als „Wehrdienstverweigerer“ freiwillig weiter bis in diese Gegend. Heute leben in dem Dorf noch 90 Deutsche.
Wir besuchten den aus Deutschland stammenden Dorflehrer Wilhelm Lategahn. Er leitet den Deutschunterricht in der Dorfschule. Gleichzeitig hat er den Bauernhof, den er bewohnt, liebevoll zu einem kleinen „Heimatmuseum“ umgestaltet. Die Einrichtung des Hauses ist traditionell. Auf Informationstafeln kann man die Geschichte der Deutschen in Kirgisistan verfolgen. Wir genossen Wilhelms Gastfreundschaft sehr und erfuhren viel über den Alltag der Mennoniten. Unser Besuch endete mit einem Spaziergang bei Dämmerung durch das Dorf und dem Besuch des Bethauses mit einem großen Taufbecken im Hof sowie über den Friedhof.
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Deutsche Kinder in Jurten
Wir erfuhren auch, dass ein Teil der deutschstämmigen Bevölkerung – im Gegensatz zu vielen Russen – die kirgisische Sprache beherrscht. Als in den 1930er und 40er Jahren die Deutschen in Arbeitslager kamen, wurden in vielen Fällen deren Kinder von kirgisischen Nomadenfamilien aufgenommen. Die Kinder halfen den Nomaden beim Viehtreiben und hatten ein gesichertes Leben. Sie verhungerten nicht und im Winter gab es eine geheizte Jurte. Bis heute fühlen sich diese Menschen den Kirgisen in Dankbarkeit verbunden.
Zum Abschluss unseres Aufenthaltes in Bischkek trafen wir Julia Gert, Referentin für Jugendarbeit beim Volksrat der Deutschen Kirgistans. Julia Gert ist in Kirgistan geboren und aufgewachsen, ging dann nach Deutschland zum Studium, kam aber nach ihrem Abschluss doch zurück in die Heimat. Julia Gert berichtete uns, dass in Kirgistan noch etwa 5.000 Deutsche leben. Diese gehören unterschiedlichen Konfessionen an.
Der Volksrat der Deutschen vertritt die Interessen der deutschen Minderheit in Kirgistan. Er bemüht sich um die Wahrung und Pflege der deutschen Sprache und Kultur. Eine große Aufgabe ist dabei die Jugendarbeit. Jugendliche können sich in Begegnungszentren treffen. Hier gibt es verschiedene Angebote wie Tanzunterricht, Singen, Basteln und Sprachkurse. Die Klubs dienen als Begegnungsstätten und fördern den Geist der Toleranz: die meisten Klubmitglieder sind deutschstämmig, doch es gibt auch Vertreter anderer Ethnien.